Essen. Viele Kinder leiden unter Pandemie-Folgen: Ein Gespräch mit Philosophie-Professor Frank Dietrich über Gerechtigkeit und medizinische Ethik.
Haben wir die Kinder in der Corona-Pandemie zu wenig beachtet? Hohe Inzidenzen, hohe Quarantäne-Raten machen es Kindern und Jugendlichen gerade schwer, an der neuen Normalität teilzuhaben – dabei waren sie es, die durch die frühen Schulschließungen besonders betroffen waren. Frank Dietrich, Professor für Angewandte Philosophie an der Universität Düsseldorf, beschäftigt sich seit langem mit ethischen Aspekten der Medizin und Fragen der Gerechtigkeit. Britta Heidemann sprach mit dem 54-jährigen Familienvater.
Herr Professor Dietrich, müssten wir als Gesellschaft jetzt gerade nicht mehr Rücksicht nehmen – und die Kinder stärker in den Blick rücken?
Ja, absolut. Die Frage ist, was genau bedeutet es jetzt, etwas für die Kinder zu tun: Schützt man die Gesundheit der Kinder, indem man auf Distanzunterricht setzt? Oder sorgt man für ihre Bildung, indem man die Schulen öffnet? Ich habe selbst gesehen, wie der Distanzunterricht sich auswirkt. Es spricht viel dafür, den Unterricht weiterlaufen zu lassen und unseren Kindern die Kontakte zu ermöglichen. Dabei sind die Testungen und die Quarantäne ein wichtiger Gesundheitsschutz.
Man könnte einen Schritt weitergehen und sagen: Wir müssen als Gesellschaft diejenigen, die nicht geimpft werden können, also alle Kinder bis 12 Jahre, besser schützen – und in allen Bereichen nur sehr kontrolliert öffnen.
„Dieses Eingesperrtsein der Kinder, das hat mir durchaus zu schaffen gemacht.“
Ich habe durchaus große Sympathien für eine 2-G-Strategie und nicht sehr viel Verständnis für Menschen, die sich nicht impfen lassen möchten – es sei denn, es gibt gesundheitliche Gründe. Wir sollten schon möglichst viel zulassen, aber dies mit den nötigen Sicherheitsmaßnahmen. Corona ist andererseits eine der wenigen Krankheiten, die extrem altersdiskriminierend ist. Kinder sind einfach sehr viel weniger betroffen von schweren Verläufen. Ich kann ein Stück weit verstehen, dass die Sorge sich zunächst auf ältere und pflegebedürftige Menschen gerichtet hat.
Die Pandemie ist vielen Kindern auf die Seele geschlagen, was müssen wir jetzt für sie tun?
Ganz wichtig dürfte sein, soziale Kontakte zu ersetzen und im familiären Bereich sich umso intensiver zu kümmern. Persönlich finde ich es ganz schwierig, jetzt noch ein Gegengewicht gegen die Verlockungen des Internets aufrechtzuerhalten. Mein jüngster Sohn ist 14 Jahre alt und während es Lockdowns bestand die einzige Möglichkeit, Freunde zu treffen, darin, im Internet Spiele zu spielen. Dieses Eingesperrtsein der Kinder, das hat mir durchaus zu schaffen gemacht. Die Folgen zeigen sich meist erst langfristig.
Die Therapie-Plätze auch für Kinder und Jugendliche sind derzeit knapp.
Ja, das stimmt. Es gibt derzeit große Knappheitsprobleme auch in der Jugendpsychiatrie und Jugendbetreuung. Tatsächlich haben die psychischen Auswirkungen auf Kinder und Jugendliche zu Anfang gar nicht im Fokus gestanden. Es stellt sich grundsätzlich die Frage, wie viel sind wir als Gesellschaft bereit, für Gesundheit auszugeben. Man könnte sich auch vorstellen, dass wir viel höhere Krankenkassenbeiträge zahlen, dann gäbe es vielleicht auch mehr Geld für die Jugendpsychiatrie. Ich glaube, dass wir uns mit dem Gedanken anfreunden sollten, dass wir mehr Geld für Gesundheit ausgeben müssen. Aber das wird nicht alle Knappheitsprobleme beseitigen.
Schützen wir als Gesellschaft die Älteren stärker als die Jüngeren?
Wir haben eine starke Tendenz, verletzliche Personengruppen zu schützen – das sind oft ältere Menschen, aber eben nicht nur. Wenn man sich mal die Kriterien anschaut, die die Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin selbst erarbeitet hat, in Ermangelung politischer Vorgaben, dann sieht man, dass da eigentlich gar nicht so klar ist, wie mit dem Alter umgegangen wird. Die Empfehlung lautet, bei der Vergabe von zu wenig Intensivbetten für zu viele Patienten nach Überlebenswahrscheinlichkeit zu entscheiden. Auf den ersten Blick kommt das Kriterium des Alters nicht vor, aber jüngere Menschen werden im Durchschnitt eine robustere Konstitution haben und damit die besseren Überlebenschancen. Das hat indirekt altersdiskriminierende Effekte.
„Auch in anderen Situationen tun wir nicht alles, um Leben zu schützen.“
Ihr Fachgebiet ist eben diese Verteilungsgerechtigkeit auf medizinischer Ebene. Waren Sie überrascht davon, wie heftig in der Pandemie Verteilungs-Debatten aller Art geführt wurden?
Mich hat eigentlich gerade nicht überrascht, dass die Diskussionen so kontrovers geführt wurden und wir keinen klaren Kompass haben. Wir kommen nicht umhin, ganz unterschiedliche Dinge gegeneinander abzuwägen. Die Verödung der Innenstädte, die Vereinsamung alter Menschen, die sozialen Belange der Kinder, den Schutz des Lebens. Das lässt sich nur sehr schwer vergleichen. Auch in anderen Situationen tun wir nicht alles, um Leben zu schützen. Wir verzichten nicht komplett auf den Straßenverkehr, damit es keine Verkehrstoten mehr gibt. Als Individuen sind wir ebenfalls nicht bereit, alles dem Schutz des Lebens unterzuordnen: So bleiben wir abends lieber auf der Couch sitzen und trinken ein Bierchen, anstatt etwas für unsere Gesundheit zu tun und spazieren zu gehen. In der emotional sehr aufgeladenen Diskussion um die Corona-Pandemie wird das aber manchmal so dargestellt: Das Leben ist das höchste Gut, deshalb müssen wir jetzt in den nächsten Lockdown hinein. Aber ganz so einfach ist das eben nicht.