Essen. Ein Killer, der schreibt und trifft: Mit „Billy Summers“ hat Stephen King einen großartigen Roman vorgelegt, der nur nebenbei ein Thriller ist.

Der Killer Billy Summers wartet in einer Hotellobby auf seinen nächsten Auftraggeber und liest zur einfältigen Tarnung seines Killer-Images einen Comic. In Wahrheit aber denkt er nach über Émile Zolas Roman „Thérèse Raquin“; eine „albtraumhafte Version von Charles Dickens“ nennt er den Franzosen und sein Werk, mit er den Durchbruch erzielte, „eindeutig das Buch eines jungen Mannes“.

So beginnt der neue Roman des eindeutig alten Mannes Stephen King, der mit seinen 73 Jahren als König des Horrors auf über 400 Millionen verkaufte Bücher weltweit zurückblicken kann, Übersetzungen in mehr als 40 Sprachen, zahlreiche Verfilmungen. Und der im Herbst seines Schreibens einmal mehr beweist, dass er der heimliche Chronist der amerikanischen Seele ist und seine so erfolgreichen Schreckensgestalten immer nur dem dunklen Unterbewusstsein seiner Leser entsprangen.

Der Scharfschütze Billy Summers tarnt sich im Städtchen Red Bluff als Schriftsteller

Billy Summers dagegen: kein Horrorclown, sondern eine Lichtgestalt. Sein nächster Auftrag wird ihn ins Städtchen Red Bluff in den Südstaaten führen, dort soll der Scharfschütze, der einst für die USA im Irak stationiert war, einen Mörder noch vor seinem Prozess auf den Stufen zum Gerichtsgebäude erschießen. Mit zwei Millionen Euro ist der Auftrag verdächtig gut bezahlt, Summers aber nimmt ihn vor allem an, weil sein Opfer ein schlechter Mensch war. Denn obwohl er schon mehrfach getötet hat, hält er seinen moralischen Kompass für absolut intakt, eine Art Selbstschutz einer früh geschundenen Seele (davon werden wir noch lesen). Denn, Achtung, wie war das doch gleich bei Zola: Thérèse Raquin ermordet gemeinsam mit ihrem Liebhaber ihren Ehemann, darüber werden beide so verrückt, so von Halluzinationen gequält, dass sie sich selbst umbringen. Die Macht des Horrors! Im Irak fürchtete einer von Billy Summers’ Kumpels, man könne in und an eigenen Alpträumen sterben.

Davon lesen wir in Summers eigenen Worten, denn zur Tarnung im Städtchen Red Bluff haben seine Auftraggeber den vermeintlich naiven Summers als eine Art Witz zum Schriftsteller gemacht, der im Hochhaus gleich gegenüber dem Gerichtsgebäude ein Büro gemietet hat. Über Monate wird er sich einfügen ins kleinstädtische Leben, wird als guter Bürokollege mit Anwälten Tacos essen, wird einen langen Sommer lang den Rasen vor seinem Haus pflegen, mit dem Nachbarn Bier auf der Veranda trinken, mit den Kindern Monopoly spielen und an seinem geheimen Zweitwohnsitz, einer billigen Souterrainwohnung (Summers ahnt bereits, dass an seinem Auftrag etwas faul ist), die nachbarschaftliche Pflege von zwei Zimmerpflanzen namens Daphne und Walter übernehmen. Familie, Freundschaft, Solidarität – King lässt uns hier teilhaben an einem Wunschtraum von Amerika – und an dem, was Billy quält: dass er diesen bald in einen Alptraum verwandeln wird, dass er das Vertrauen seiner Nachbarn betrügen wird.

Stephen King reflektiert mit seinem Roman im Roman über den Kern allen Schreibens

Womöglich ist sein Schreiben in diesem langen Sommer in Red Bluff, das er bald sehr heimlich und sehr ernsthaft betreibt, auch motiviert von der Hoffnung, als guter Mensch erinnert zu werden. Und was ist das für ein Roman! Billy erzählt, wie er als kleiner Junge den Mörder seiner Schwester erschoss, in einem Tonfall naiven Staunens, über den wiederum er selbst staunt: „Es steckt mehr darin. Das ist die Stimme des kindlichen Ichs. Obwohl Billy sich nie vorgenommen hat, mit dieser Stimme zu schreiben – zumindest nicht bewusst --, hat er genau das getan. Es war, als wäre er unter Hypnose in seine Kindheit zurückgefallen. Vielleicht geht es beim Schreiben ja darum, wenn etwas wirklich wichtig ist.“ Trailerpark, Pflegefamilie, mit 17 zur Army: Auch diese Geschichte ist Amerika. Man liest atemlos, ganz Billys Stimme verfallen, ein großartiges Stück Literatur, einen Roman im Roman.

Den Stephen King zugleich nutzt, um über den Kern allen Schreibens zu reflektieren: „Niemand hat gefragt, wie es sich angefühlt habe, Cathy mit ihrer zertrümmerten Brust in den Armen zu halten. Niemand hat gefragt, wie es ist, wenn man auf seine Schwester aufpassen soll und bei dieser wichtigsten Aufgabe auf der großen, weiten Welt versagt. Niemand hat gefragt, wie es ist, wenn man einer Schwester hoffnungsvoll die feuchte Hand vor Mund und Nase hält, obwohl man weiß, dass es keinerlei Hoffnung mehr gibt…. Welch ungeheure Erleichterung, diese Stimme jetzt sprechen zu lassen.“

In seiner zweiten Hälfte ist „Billy Summers“ ein klassischer Thriller

Dann fällt der bestellte Schuss.

Und der Roman wandelt sich, ein Katz-und-Maus-Spiel beginnt, ein klassischer Thriller. Billy wird als Jäger und Gejagter begleitet von einer jungen Frau namens Alice: Eines Nachts sammelt er sie zerschunden und vergewaltigt buchstäblich von der Straße auf. Es folgt ein Roadmovie mit zwei, drei nicht ganz überraschenden Wendungen – und dann schließlich eine Volte, mit der Stephen King noch einmal die ganze Macht der Literatur beschwört und seinen Schriftsteller-Roman zu einem seiner besten Werke überhaupt macht.

Natürlich erinnern wir uns an diesen anderen Schriftsteller-Roman aus seiner Feder: „Shining“ beginnt bekanntlich mit der Schreibblockade eines Autors namens Jack Torrance. Am Ende werden Billy und Alice bei einem Kumpel unterkommen, der in den Bergen von Colorado lebt. Billy entdeckt ein kleines Sommerhaus als Schreibstube, nur gehen dort seltsame Dinge vor sich. Die Hütte gehörte – wir ahnten es – zu einem Hotel namens Overlook, das vor langer Zeit abgebrannt ist, „angeblich hat es dort gespukt“. Im Sommerhaus ist es stets eiskalt, selbst im Sommer: „Vielleicht muss man ja eine Geschichte, bei der es einen fröstelt“, so deutet es der unbeugsame, furchtlose Billy Summers, „in einem frostigen Zimmer schreiben.“