Von Transsilvanien über eine Pilgerfahrt mit Mark Twain bis ins Ruhrgebiet der 60er: Wir stellen Bücher vor, mit denen Sie in Gedanken reisen.

Amerika

Nicht jeder hat Netflix. Und wenn doch – dann lohnt es trotzdem, „Das Damengambit“ (Diogenes, 416 S., 24 €) in Buchform zu erleben. Denn wie Schriftsteller Walter Tevis (1928-1984) sich in eine achtjährige Waise hineindenkt und -fühlt, wie er das ländliche Amerika der 50er Jahre in aller Doppelmoral vorführt, das ist auch literarisch voller kluger Schachzüge. Beth Harmon lernt das Schachspiel von Hausmeister Mr. Shaibel, setzt ihn aber alsbald ebenso matt wie den versammelten Schachclub der örtlichen Highschool – und setzt ihren Siegeszug fort, als sie von der psychisch labilen Mrs Wheatley adoptiert wird. Die fatalerweise die gleichen grünen Pillen „zur Beruhigung“ nimmt, mit denen Beth im Waisenhaus ruhig gestellt wurde. Sucht in allen Facetten beleuchtet Tevis, Aufstieg und Fall einer genialen Spielerin – selbst dann spannend, wenn man vom Schachspiel selbst gar keine Ahnung hat.

Frankreich

Trifft eine Liebesromanschreiberin eine Journalistin: Kein Witz, sondern Ausgangspunkt für Sylvie Schenks „Roman d’amour“ (Hanser, 128 S., 18 €). Schriftstellerin Charlotte Moire also hat einen Liebesroman geschrieben, der genau so heißt, – und trifft vor einer Preisverleihung auf einer Nordseeinsel auf eine Interviewerin, die allzu hartnäckig nach dem biografischen Gehalt der Dreiecksgeschichte fragt. So hartnäckig, dass in dem mäandernden Gespräch Fiktion und Fakten ineinander fließen, bis Charlotte in ihrer eigenen Vergangenheit, der lange zurückliegenden Amour fou, schier zu ertrinken droht. Schenk, 1944 im französischen Chambéry geboren, lebt seit den späten 60er Jahren in Deutschland – hat sich aber die fein-ironische Handschrift ihrer Heimat bewahrt; und so sehen wir Lesenden vor unserem inneren Auge Isabelle Huppert in einem dieser doppelbödigen Claude-Chabrol-Filme.

Rumänien

Der Schauerroman schien zuletzt etwas aus der Mode gekommen. Dana Grigorcea belebt in ihrem Roman „Die nicht sterben“ (Penguin, 272 S., 22 €) also einen Untoten: Sie schickt eine junge Künstlerin auf Familienbesuch nach Transsilvanien, das Grab von Vlad III. spielt ebenso eine Rolle wie die Tradition, in der Familienvilla jeden Sommer das sozialistische Mobiliar zu verhängen und sich auf Perserteppichen an die guten alten Zeiten zu erinnern. Grigorceas Text ist vielleicht eher Collage denn Roman, aber großartig unterhaltsam.

England

Literaturnobelpreisträger Kazuo Ishiguro hat schon griesgrämige Butler („Was vom Tage übrig blieb“) und elternlose Klone („Alles, was wir geben mussten“) zu Helden seiner Romane gemacht. In „Klara und die Sonne“ (Blessing, 352 S., 24 €) aber lässt er eine Künstliche Intelligenz ihre eigene („Lebens“-)Geschichte erzählen: Klara und ihresgleichen sind dafür geschaffen, Jugendliche durch die Pubertät zu begleiten. In einer Welt, in der Eltern ihre Kinder gen-optimieren, dabei aber deren Gesundheit, gar Leben riskieren, scheint Klara bald die menschlichste aller Figuren – ein abgründiges Gedankenspiel. Grandios auch, wie Ishiguro die Weltsicht einer KI als minimale Verschiebung unserer Wahrnehmung skizziert, inklusive einiger entscheidender Missverständnisse.

Deutschland

Gewalt gegen Frauen – will man davon im Urlaub lesen? Will man, wenn Friedrich Ani der Autor ist: Mit „Letzte Ehre“ (Suhrkamp, 270 S., 22 €) hat er einen fein gesponnenen Krimiplot verbunden mit scharfzüngiger Gesellschaftsdiagnose und einem hohen literarischen Anspruch. Ein Mädchen verschwindet, geht am Montagmorgen nicht zur Schule, ist unauffindbar. Stephan Barig, der Freund ihrer Mutter, erscheint Ermittlerin Fariza Nasri unglaubwürdig – und nach einer absolut zufälligen Kneipenschlägerei mit einer Frau muss sie auch den Tod von Stephan Barigs Vater neu untersuchen. Dann verschwindet Fariza Nasris beste Freundin Claudia, die ihr kurz zuvor von einer Affäre erzählte: ein letzter, verrückter Dreh in einem mörderisch guten Krimi.

Italien

Die Eltern von Autorin Claudia Durastanti sind gehörlos: Wie es ist, immer und überall „Die Fremde“ (Zsolnay, 304 S., 24 €) zu sein und die Fremde immer neu kennenzulernen, das erzählt die italienische Schriftstellerin in ihrem berührenden autofiktionalen Werk. Die kleine Claudia wird 1984 in New York geboren, bald schon aber zieht ihre Mutter alleine mit ihr zurück in ein süditalienisches Dorf – und nur mit Hilfe von Büchern bringt das Mädchen sich ihre Muttersprache bei.

Auf hoher See

Am 7. Juni 1867 startete die „Quaker City“, ein Seitenraddampfer aus Zeiten des amerikanischen Bürgerkriegs, zur Reise gen „Heiliges Land“. Mit an Bord 77 Passagiere und: Mark Twain. Dessen 1869 erschienener Reportageband „Die Arglosen im Ausland“ sollte zu einem der berühmtesten Reisebücher der US-Literatur werden. Die Neu-Übersetzung von Alexander Pechmann unter dem Titel „Unterwegs mit den Arglosen“ (Mare Verlag, 528 S., 44 €) bezieht sich auf die Zeitungsartikel der 1860er Jahre, die Original-Reisebriefe voller Slang-Ausdrücke (und einer Beschreibung badender Frauen in Odessa), die in der späteren Buchausgabe fehlten. Wie der fluchende, trinkende Twain auf die Pilger wirkte? Im Nachwort zitiert Pechmann eine Mitreisende: „Ich sah heute beim Abendessen, wie ehrwürdige Theologen und weise Männer sich wegen seiner Person und eigentümlichen Manieren vor Lachen schütteten.“ So geht es auch den heutigen Lesern, die von den Azoren über Gibraltar, Italien, Türkei bis nach Israel kaum aus dem Staunen heraus kommen: Mit solch respektlosem, klaren Blick ist die Welt und ihre skurrilen Bewohner selten nur betrachtet worden.

Im Ruhrgebiet

Die studierte Juristin Eva Völler hat es mit den ersten beiden Bänden ihrer „Ruhrpott-Saga“ auf die Bestsellerlisten geschafft – nun geht es im dritten Teil um „Eine Sehnsucht nach morgen“ (Lübbe, 460 S., 14,90 €): 1968 ist das Ruhrgebiet geprägt von Arbeitskampf und den Ausläufern der Flowerpower-Bewegung. Bärbel, die wir zuletzt als Schülerin im Fischlakener Zechenhäuschen erlebten, ist nun Ärztin. Und nach dem Medizinstudium in Hamburg nach Essen zurückgekehrt – um sich hier gegen allerlei weißgewandete Götter durchzusetzen. Und eine alte Liebe wiederzutreffen. Völlers Roman setzt einmal mehr auf das ganz große Gefühl auch unter kleinen Leuten, und erneut besticht er durch Lokalkolorit: diesmal von der Demo in Essens Sachsenstraße bis zum freizügigen Nachtklub.