Essen. Ergun Çağatay fotografierte im Jahr 1990 türkische Einwanderer-Familien in Deutschland. Eine Ausstellung im Ruhrmuseum zeigt nun seine Bilder.
So deutlich wie in dieser Ausstellung hat man die Daten selten zusammen gesehen: Am 13. August vor 60 Jahren zieht die DDR die Mauer hoch, stoppt die Auswanderung aus dem Arbeiter- und Bauern-Staat – und keine drei Monate später, am 30. Oktober, regelt ein zweiseitiges Papier, ausgehandelt vom Auswärtigen Amt mit der türkischen Botschaft, dass Arbeiter und Bauern aus der Türkei nach Almanya kommen dürfen, um das Bruttosozialprodukt zu steigern.
Vor dem bekannten Wort von Max Frisch, man habe Arbeitskräfte gerufen, aber es seien Menschen gekommen, sollte man in Deutschland noch Jahrzehnte die Augen verschließen – dabei mahnte der Schriftsteller schon 1965. Acht Jahre später verfügt die Bundesregierung wegen der Ölkrise einen Anwerbestopp; wieder zehn Jahre später setzt die Kohl-Regierung Rückkehr-Prämien von 10.500 DM für Familien von Arbeits-Einwanderern aus, für jedes Kind kamen noch einmal 1500 DM dazu, die Rentenbeiträge wurden auch ausgezahlt. Und im März 1990, nur wenige Monate nach dem Fall der Mauer und der Wiedervereinigung mit den Schwestern und Brüdern im Osten, plant die Bundesregierung ein neues, rigideres Ausländergesetz, das Abschiebungen erleichtern soll.
Die Bilder lagerten Jahrzehnte im Archiv des Fotografen
Das war die deutsche „Willkommenskultur“ der ersten 30 Jahre türkischer Einwanderung, und die Probleme der folgenden 30 Jahre dürften damit zu tun haben. Genau an diesem Schnittpunkt hat der Istanbuler Fotograf Ergun Çağatay („Tschahatai“) im Jahr 1990 türkische Einwanderer-Familien in Deutschland fotografiert; 3477 Bilder entstanden im Auftrag der Fotoagentur Delta, die ein großes Projekt über türkische Einwanderer in Nord- und Westeuropa plante. Das kam aber nie über die Anfänge hinaus, und die Bilder lagerten Jahrzehnte im Archiv des Fotografen, der zu den renommierten seiner Zunft gehörte. Der Flüchtlingslager in Bangkok, die Umweltkatastrophe des Aralsees und illuminierte Handschriften im Topkapi-Museum fotografiert hatte und 1982 eine Titelseite im amerikanischen „Life“-Magazin mit einem dramatischen Foto von einer Lebertransplantation.
Schraubende Frau am Ford-Fließband
In Deutschland lichtete Çağatay binnen weniger Tage türkische Einwanderer der ersten und zweiten Generation in Hamburg, Köln, Werl, Berlin und Duisburg ab – in Farbe und Schwarzweiß und nicht immer so, dass sich die Negative für eine starke Vergrößerung eignen würden,wie sich jetzt in der Ausstellung „Wir sind von hier“ im Ruhrmuseum zeigt.
Aus beinahe allen Bildern aber spricht der Stolz der Menschen, es zu etwas gebracht zu haben. Mal mit mehr Pathos (wie bei den Bergarbeitern in Duisburg-Walsum, wo auch die Kopftücher häufiger sind), mal mit großer Selbstverständlichkeit wie auf der Hochzeitsfeier, den Gemüseläden und den Bauchtanzabenden in Berlin oder der jungen Frau mit dem Elektroschrauber am Band von Ford in Köln. Hier gab es sogar eine deutsch-türkische Theatergruppe: „Arkadaş“ („Freund“).
Jugendgang „Boys 36“ als Spiegel der Ausgrenzung
In Berlin fotografierte Çağatay aber auch die Kreuzberger Jugendgang „Boys 36“, die schon ein Spiegel der Ausgrenzung waren, eine Reaktion auf die gläsernen Grenzen der Integration. Immerhin: Ein Foto, das entstand, als er sich Jahre später mit den Männern traf, die aus den Straßenjungs geworden waren, zeigt sie als brave Bürger.
In Hamburg nahm Çağatay mit wütenden Protesten gegen das Ausländergesetz zugleich auch den sehnlichen Wunsch auf, in dieser Republik dazuzugehören. Doch es sollte noch über ein Jahrzehnt dauern, bis eine Bundesregierung die Konsequenzen daraus zog, dass sie ein Einwanderungsland reguliert.