Essen. Mit Preisen überhäuft, zu Recht: Jetzt läuft in unseren Kinos Chloé Zhaos „Nomadland“ an, eine Hommage an die Tapferkeit der Verlierer in den USA.
Dieser Himmel. Dieser Himmel ist vielleicht die letzte unbegrenzte Möglichkeit Amerikas. Und er ist ein sprechendes Bild. Azurleuchtend weit wie eine unendliche Verheißung. Dann wieder von einem eisigen Schmutzgrau, das fragt: Wie soll hier noch ein Hauch Hoffnung wehen? Joshua James Richards’ Kamera gibt der Natur dieses fast mystische Wesen, größer als wir alle, greifbar nie. Von rätselhafter Geduld, da der Mensch das Ausbeuten der Erde nicht enden lässt – oder sich eine einsame Frau, die kein WC besitzt, hinhockt, Wasser zu lassen in freier Wildbahn.
Genial: Frances McDormand als eine von vielen in „Nomadland“
Wir haben vergessen, ob uns Frances McDormand (als Fern) diese schonungslose Szene in Nebraska, South Dakota oder Nevada macht. Aber das Bild bleibt: Ein Mensch, dem nichts Menschliches mehr fremd ist – und der auf mittellose Art und Weise doch seine Würde behalten hat. Von solchen Leuten gibt es nicht wenige in den USA. Von ihnen erzählt „Nomadland“.
Dieses Elend. Dieses Elend war in vielen Fällen vorher einmal Wohlstand: Eine Arbeit, ein Auto, ein Häuschen mit der dazu passenden Hypothek. Dann kommt 2008, einem Teil der US-Gesellschaft bricht alles weg, manchem verzögert, wer gibt schon auf in diesem Land? Erst verkauft man die Lebensversicherung, irgendwann kann man nicht mal mehr zum Zahnarzt. Einigen ist irgendwann ihr Kleinbus die letzte Chance, kein Obdachloser zu sein.
„Nomaden der Arbeit“ hießt das Buch von Jessica Bruder
Manche, für die ein sicher geglaubter Mittelstand zur Abwärtsspirale wurde, sind eine Art Gemeinde. Tipps, wie man ohne alles auskommt, tauschen sie am Lagerfeuer. Sie, die mit den Jahreszeiten tausende Kilometer weit von einem Tagelohn zum anderen rollen, begleitete Jessica Bruder für ihr Sachbuch „Nomaden der Arbeit“. Chloé Zhao hat es meisterlich verfilmt – das liegt vor allem an der pathosfreien Beiläufigkeit, mit der wir an ihrer Seite „Nomadland“ bereisen.
Diese Menschen. Diese Menschen, die Zhao sprechen lässt, sind in den meisten Fällen keine ausgebildeten Schauspieler. Es sind Kronzeugen einer kapitalistischen Fallstudie. Die dokumentarische Ebene des Films schultern Swankie, Bob, Linda und viele andere schlicht aus ihrer Biografie. Manche sind aus der Kurve geflogen, andere ausgestiegen. Kunstvoll, aber ungekünstelt verwebt Zhao diese Leben mit den Rollen professioneller Schauspieler. Dass wir Betrachter mehr als einmal nicht wissen, was dem Drehbuch, was dem Leben gedankt ist, macht die ungeschminkte Faszination dieses großartigen Stücks Kino aus.
Das große Schweigen, das dieser Film sich leisten kann, durchbrechen Dialoge kleiner Begegnungen. Von der unkaputtbaren Aufbruchstimmung, für die das Siedlerland Amerika einst stand, sind immer noch Wortfetzen des Zuspruchs geblieben. Manche trotzig, viele aber von einer menschlichen Wärme und herzlichen Zugewandtheit, die wie ein Echo von Zhaos Erzählung wirken: Lasst das bitte mit Eurem mitleidigen Wohlstandsblick!
Nur die Musik von Ludovico Einaudi stört
„Nomadland“ kann man als Studie der Ungerechtigkeit lesen. Aber es ist vor allem ein Film über jene Würde, die keinen Kontostand kennt. Wie diese Menschen das verlogene Geklimper ihrer Amazon-Plackerei, den Dreck der Rübenernte, das dauernde Abgewiesenwerden auf Parkplätzen nicht in Hass oder Terror verwandeln, schenkt uns ein Film-Erlebnis in Demut.
Frances McDormands Verdienst als Protagonistin ist monumental. Mehr noch als ihre Leistung, dem Unbehausten mit der verarmten Witwe Fern das verwitterte Gesicht einer Unbeirrbaren zu geben, zählt freilich die Kunst, mit der sie mit echten „Nomads“ frappierend hürdenlos ins Spiel kommt.
Eine wunder Punkt dieses Werkes sei nicht verschwiegen. Chloé Zhao besudelt monumentale Bilder und ausgeklügelte Dramaturgie beklemmend schmerzfrei mit plumpem Fahrstuhlgedudel – es ist Dutzendware Ludovico Einaudis, die der geradlinigen Ästhetik dieses Werks einen Bärendienst erweist.