Essen. Sieben Texte sind nominiert für den Mülheimer Dramatikerpreis des „Stücke“-Festivals. Die Uraufführungen sind im kostenlosen Stream zu sehen.

Sieben Autorinnen und Autoren sind nominiert für den Mülheimer Dramatiker-Wettbewerb. Die „Stücke“ sind zwischen dem 13. und dem 29. Mai aufwww.stuecke.de zu sehen: 30 Stunden lang ab Startzeit sind die Streams kostenlos verfügbar. Was lohnt? Das verrät die Vorab-Lektüre.

Christine Umpfenbach: „9/26 – Das Oktoberfestattentat“

Was für ein fröhlicher Beginn! „Daddy Cool“, ein Walkman und 80er-Jahre-Feeling, Stichwort: „Vokuhila“. Dann aber explodiert die Bombe: Am 26. Oktober 1980 um 22.19 Uhr tötet sie am Haupteingang zum Oktoberfestgelände 13 Menschen und verletzt 221 teils schwer. Christine Umpfenbach, bekannt für ihre Recherchearbeit, hat mit Opfern gesprochen. Da ist die Familie aus dem sozialen Brennpunkt, die sich extra neu eingekleidet hat für die Wiesn, da ist die junge Frau, die unbedingt um elf zu Hause sein soll. Umpfenbach erspart uns nichts: Nicht die Details der Verletzungen, das Blut. Nicht die Ohnmacht des Anwalts: Ein rechtsextremistischer Anschlag, ein Netzwerk? 1980 ist das undenkbar. Dann die Schmach der Opfer – das Trauma des Jungen, der die Schwestern verlor, gilt als „milieubedingte“ Entwicklungsverzögerung. Wuchtig und wichtig ist dieses Stück, es berührt und verstört. Was für ein fulminanter Beginn des Festivals!

Do, 13.5., 19:30 Uhr. Dauer: 1 h 30 min. Inszenierung von Christine Umpfenbach, Münchner Kammerspiele.

Thomas Freyer: „Stummes Land“

Ein Abendessen mit Freunden, ein Abgleich des Erreichten, die Karriere des einen, die Altbauwohnung der anderen. Dann die Erkenntnis, dass Esther, Laura, Daniel und Soska sich so weit nun nicht von ihrer Herkunft entfernt habe: „Wir sind alle Rassisten. … Haben es von unseren Vätern gelernt.“ Mit eher spröden Dialogen beginnt Thomas Freyer seine Spurensuche, gräbt sich im zweiten Teil tief in die DDR-Geschichte, die den Mythos vom antifaschistischen Deutschland pflegte, berichtet aus Kindersicht von Ereignissen wie dem 17. Juni und nimmt dann die Perspektive eines Dorfbewohners ein, der zum Brandstifter wird. Das alles ist gut gemacht, genau gezeichnet, sprachlich fein – und setzt doch zu sehr aufs Mitdenken statt Mitfühlen.

Sa, 15.5., 18 Uhr. Dauer: 2 h. Inszenierung von Tilmann Köhler am Staatsschauspiel Dresden.

Boris Nikitin: „Erste Staffel. 20 Jahre großer Bruder“

Ziehen zehn Leute einen Container – vor gut 20 Jahren begann so kein Witz, sondern ein Fernseherfolg: Reality TV. Der Schweizer Boris Nikitin machte in seinem Projekt fürs Nürnberger Schauspielhaus aus der Corona-Not eine Tugend und ließ das Ensemble ins leere Theater einziehen. Das Ergebnis war eine Internet-Serie. Nur ist die Form spannender als der Inhalt. Was schon für das Fernsehen von vor 20 Jahren galt. Schöner Satz: „Früher haben wir über den Container gelacht, heute sitzen wir alle drin.“

Di, 18.5., 18 Uhr. Dauer: 2 h. Inszenierung: Boris Nikitin am Staatstheater Nürnberg.

Rainald Goetz: „Reich des Todes“

Kaputt sind die Türme des World Trade Centers. Kaputt aber sind auch die Herrschenden, in Amerika, in Europa. Ein „Reich des Todes“, so die Diagnose von Rainald Goetz, gesteuert von zu viel „Testosteron, Macho-Allüren“, er sieht „fundamental Verrücktes in High-Noon-Manier“. Die handelnden Personen sind gegenwärtige und historische Machthaber, Weltprominenz und Lokalgrößen (erinnert sich noch wer an Ronald Schill?). Atta, der Attentäter, ist in US-Gefangenschaft, es geht um Gewalt, die mit Gewalt beantwortet wird. Das alles endet in einer bitterbösen Suada, „das Theater ist kein Gericht“, heißt es in einem giftigen Seitenhieb gegen Ferdinand von Schirach, das Publikum soll nicht urteilen, es geht um die Vorstellung im wahrsten Sinne, „die Frage also, wie es war“. Dieser Frage nähert sich Goetz sprachmächtig und virtuos. Drei Mal schon hat der 66-Jährige die „Stücke“ gewonnen: 1988, 1993, 2000.

Fr, 21.5., 18:30 Uhr. Dauer: 4 h 15. Inszenierung von Karin Beier am Schauspielhaus Hamburg. Mit: Sebastian Blomberg, Burghart Klaußner.

Sibylle Berg: „Und sicher ist mit mir die Welt verschwunden“

Eine Frau stirbt. Ihre Tochter kommt zu spät, fühlt aber nichts, nicht einmal Verlegenheit. Sibylle Berg geht zum dritten Mal ins Mülheimer Rennen, nun mit dem fulminanten Schluss einer Serie, die sie für das Gorki Theater schrieb. Ein Frauenchor klagt, es geht bitterböse ums Ganze: „Ich hatte daran geglaubt, dass Konsum glücklich macht... und das stimmt“. Die Sterbende ist noch nicht so ganz tot, hält sich mit Rachegedanken am Leben, plant ein Attentat, schimpft Frust aus sich heraus. Wie war das noch: „Ein paar Leute suchen das Glück und lachen sich tot“ – genau!

So, 23.5., 18 Uhr. 1 h 40. Inszenierung: Sebastian Nübling am Berliner Gorki Theater. Mit: Katja Riemann.

Rebekka Kricheldorf: „Der goldene Schwanz“

Aschenputtel hat zwei Stiefschwestern: „Sis und Sista waren körperbewusste Teenies, von Verschönerungsvideos influenzt.“ Aschenputtel aber geigt dem Prinzen erst mal die Meinung. Und schon schämt der sich: „Für all die falschen Träume, die ich in Teenie-Herzen pflanzte.“ Rasant krempelt Rebekka Kricheldorf, die bereits drei Mal zu den „Stücken“ eingeladen wurde, die Märchenwelt auf links: sprachgewitzt und kühn.

Mi, 26.5., 18:00 Uhr. Dauer: 1 h 45. Inszenierung von Schirin Khodadadian am Staatstheater Kassel.

Ewe Benbenek: „Tragödienbastard“

Die Großmutter lebt in einem Dorf in Polen, die Eltern haben sich Deutschland ihren Pass erkämpft, die Tochter muss Geld vom Staat nehmen und schämt sich. A, B und C sind drei Stimmen derselben Person, die von sich erzählt und über dieses Erzählen reflektiert: Nun ist man doch „wieder ins Migranten-Narrativ gerutscht, das jetzt fancy ist“. Ewe Benbenek entlarvt die Klischees, bemächtigt sich der Schimpfwörter – und kehrt sie um.

Fr., 28.5., 18 Uhr. 1 h 40. Inszenierung Florian Fischer, Schauspielhaus Wien.