Essen. Jugendsprache ist ein altes Phänomen – und entwickelt sich oft über Jahrzehnte. Im Sachbuch „Krass“ untersucht Matthias Heine ihre Geschichte.
„Krass“ zu sein oder auch „Krassität zu leben“ – das war zu Beginn des 18. Jahrhunderts keine so gute Idee. Denn jene Studenten, die das Wort abschöpften vom neulateinischen Ausdruck „crassa ignorantia“ (etwa: grobe Unwissenheit) stempelten damit die Neulinge ab, die Freiwild waren für die groben Streiche der älteren Semester.
Heute würde man wohl sagen: „opferig“.
Später bedeutete krass in der Sprache der Jugend „ungeschliffen“ oder „grob“, im frühen 19. Jahrhundert erweitert zu einem „extrem“ – und heute hat es „cool“ oder „geil“ abgelöst, ein Ausruf der positiven Überraschung. Krass, was ein Wort für eine Karriere machen kann!
Goethe schrieb in einem Notizbuch von 1788 einen „Studenten Comment“
Und vielleicht auch schon das krasseste Beispiel für die ewige Wiederkehr des Neuen. In seiner Geschichte der Jugendsprache beleuchtet Matthias Heine kundig historische Gegebenheit rund um die Jugend ihrer Zeit, angefangen mit den Studenten, die sich auch in ihrer Wortwahl abheben wollten vom Rest der Welt – vermutlich nicht die erste Gruppe von Jugendlichen mit sprachlichem Gestaltungswillen, aber die erste, die gut dokumentiert ist.
So hielt Goethe in einem Notizbuch von 1788 unter der Überschrift „Studenten Comment“ fest, dass das Wort „Pech“ für Unglück stehe – und die Jugend an sich offenbar gerne den Superlativ verwendet: „Saupech“. Das „sau-“ der Studenten von einst ist uns in vielerlei Formen erhalten, saukalt ist uns, sauwohl fühlen wir uns – und auch das „bier-“ in „bierernst“ verdanken wir jener Zeit.
„Zum Bleistift“ statt zum Beispiel, „Konifere“ statt Koryphäe – das sind alte Witze
Dass die Pauker heute noch Pauker heißen, obwohl sie gar nicht mehr schlagen? Denn dies bedeutete das Wort einst, zunächst mit Säbelrasseln: Der Fechtsaal des 19. Jahrhunderts hieß „Paukboden“. Dies Wissen verdanken wir unter anderen einem Karl Steinhäuser, Oberlehrer an einer evangelischen Realschule in Breslau: 1906 veröffentlichte er ein Buch über „Die Muttersprache im Munde des Breslauer höheren Schülers“. Und wenn heute ein besonders lustiger Kollege „zum Bleistift“ sagt anstatt zum Beispiel, „Konifere“ statt Koryphäe oder „Stück mal’n Rück“ – dann könnten wir ihn dezent darauf hinweisen, dass dieser Witz schon vor über hundert Jahren in aller Munde war.
Matthias Heine spart allerdings auch die weniger heiteren Kapitel deutscher Jugendsprache nicht aus: etwa all das Deutschtümelnde schon rund um „Turnvater“ Jahn, der das Wort Turnen als „deutschen Urlaut“ seinem Gefolge andiente. Oder die Hitlerjugend, die vom Turnvater das Wort „Gau“ und von den Wandervögeln den Gruß „Heil“ übernahm.
Das Verb „kantapern“ wurde noch weit nach dem Krieg verwendet
Der Berliner Erhard Manthei widmet im Jahrbuch der Deutschen Sprache von 1941 ein Kapitel der „Sprache der Hitlerjugend“, und wer heute den jugendsprachlichen Abkürzungswahn geißelt, dürfte staunen: „So wie LOL oder gr8 heute Stilmittel pubertärer Geheimsprachen sind, freuten sich die Jungen damals, wenn ihre Eltern nicht verstanden, was ein Schaf oder ein Justaf waren – nämlich ein Scharführer und ein Jungstammführer“, schreibt Matthias Heine. Auch weitere Grenzen sind fließend: Das in der Hitlerjugend beliebte Lobeswort „kolossiv“ ist damals jahrzehntealt, das Verb „kantapern“ wurde noch weit nach dem Krieg verwendet.
„Es läuft“ findet sich schon im „Wörterbuch der Teenager- und Twensprache“ von 1961
Jugendsprache also ist keinesfalls so schnelllebig, wie wir glauben. Die „Gammler“ der 60er Jahren hatten ihren sprachlichen Ursprung im „gammeln“ der 30er Jahre, und wenn Karin Baal, Horst Buchholz und ihre Gang im Film „Die Halbstarken“ von 1957 die Dinge „dufte“ finden und alles „mächtig“ unterstreichen, dann hätten die Breslauer Schüler von 1906 sie bestens verstanden.
Selbst das Jugendwort des Jahres 2014, ausgewählt von einer Jury für den Langenscheidt-Verlag, ist keinesfalls taufrisch. Die jugendliche Redensart „es läuft“ findet sich schon im „Wörterbuch der Teenager- und Twensprache“ von 1961.
Also: „Läuft bei dir?“ Ach, seit Jahrzehnten schon!
Matthias Heine: Krass. 500 Jahre deutsche Jugendsprache. Duden Verlag, 272 S., 18 €