Essen. Am 23. April ist Welttag des Buches. Literaturwissenschaftler Klaus Benesch zerlegt im neuen Buch den „Mythos Lesen“. Ein Interview.

Blättern Sie noch – oder scrollen Sie schon? Die Zukunft des Lesens wird oft in düsteren Farben gemalt. Klaus Benesch, Professor für Nordamerikastudien an der Ludwig-Maximilians-Universität München, denkt im neuen Buch nach über den „Mythos Lesen“. Britta Heidemann sprach mit dem 63-Jährigen über die Buchkultur, die Geisteswissenschaften – und über Computerspiele.

Herr Benesch, Ihr Buch heißt „Mythos Lesen“. Das klingt beinahe ironisch.

Klaus Benesch: Es gibt eine ganze Reihe von Mythen, die sich um das Thema Lesen ranken. Wie etwa der Mythos, mit der Buchkultur gehen auch alle zivilisatorischen Errungenschaften verloren. Die Buchkultur ist ein Phänomen, das erst im 18. Jahrhundert eingesetzt hat – und sich ab da auch schon wieder im Niedergang befand. Es steht nirgendwo geschrieben, dass es keine Welt ohne Bücher geben kann.

Die Klage, wir lesen immer weniger, die ist überraschenderweise gar nicht so neu.

Die Kulturpessimisten wollen uns weismachen: mit den neuen Technologien geht alles den Bach herunter, die bürgerliche Welt geht unter, die Zivilisation überhaupt hört auf. Das stimmt aber gar nicht. Man könnte sogar sagen, früher haben die Leute weniger gelesen, jedenfalls nicht dauernd, so wie heute. Nur lesen wir heute andere Texte, und wir lesen auch anders. Eigentlich meint die Klage also, dass wir keine Bücher mehr lesen – und tatsächlich ist sie schon sehr alt. Schon vor knapp 100 Jahren diagnostizierte der amerikanische Dichter Ezra Pound den allmählichen Verfall unserer Wertschätzung für das Medium Buch.

Vielleicht lesen wir nicht weniger. Aber Hirnforscher sagen, das Lesen eines Buches ist doch grundsätzlich etwas anderes als das Lesen auf dem Smartphone.

Das stimmt. Jüngere Menschen haben eine andere Aufmerksamkeitsspanne, sie tun sich schwer mit längeren Texten. Die Frage ist, wie gehen wir damit um? Die amerikanische Literaturprofessorin Katherine Hayles sagt etwa, wenn wir die digital natives, die als Studenten zu uns kommen, nicht verlieren wollen, müssen wir auf sie zugehen. Es macht keinen Sinn, jemandem die Aufgabe zu geben, ein dickes Buch zu lesen und darüber abstrakt zu diskutieren, wenn sein Gehirn dazu gar nicht mehr in der Lage ist. Ich bin auf sehr verschiedene, interessante Beispiele gestoßen, wie man die Studenten abholen kann – indem man sie etwa bittet, den Facebook-Eintrag einer Romanfigur zu entwerfen.

Ein Argument für das Romanlesen ist die moralische Erziehung, die schon Schiller beschrieb, aber auch die Empathie-Fähigkeit.

Ich bin aber tatsächlich sehr skeptisch, was die Empathie angeht und die ethisch-moralische Bildung. Das Argument benutzen die Geisteswissenschaftler, um ihren besonderen Platz in den Wissenschaften einzuklagen. Aber auch ein Film kann etwas in uns auslösen, oder ein Kunstwerk, ein Musikstück. Das ist nichts Exklusives, das nur der Roman kann. Wenn man nicht will, dass das alles verschwindet, muss man vielleicht zu Mischformen kommen, die wieder attraktiv scheinen.

Was für Formen könnten das sein?

In Amerika, wo die Menschen sehr technologieaffin sind, werden an einigen Unis Computerspiele so unterrichtet, wie man einst Literatur unterrichtet hat. Wissenschaftler sagen, dass man sich mit Hilfe eines Computerspiels etwa schwierige modernistische Texte wie „Finnegans Wake“ von James Joyce vielleicht sogar besser erschließen kann als mit dem Versuch, das Buch von A bis Z durchzulesen. Diese Texte, obwohl sie noch schriftliche Texte sind, fordern diese besondere Art von „hyper attention“, also diese Fähigkeit, hin- und herzuspringen, die auch Computerspiele erfordern. Da geht es darum, sich treiben zu lassen, intuitiv von einem Ereignis zum nächsten zu gehen.

Also sollten wir uns vom Buch schon mal verabschieden?

Den Roman und seine Liebhaber, die wird es weiterhin geben. Es werden nur immer weniger Menschen einen Roman von vorne bis hinten lesen. Nicht mit jeder Medienrevolution verschwindet das frühere Medium – denken wir an die Langspielplatte, deren Fangemeinde gerade wieder wächst. So wird das mit dem Buch auch sein. Aber wenn das Buch gesellschaftlich relevant bleiben möchte, dann muss sich etwas ändern.

Klaus Beneschs Essay „Mythos Lesen“ (Transcript Verlag, 96 S., 15 €) ist Teil der Reihe „Wie wir lesen“, die aus einer Tagung 2018 am Literaturhaus München entstand.