Essen. Mit Lust am Widerspruch erzählt: Juli Zeh schreibt im neuen Roman „Über Menschen“ bemerkenswert amüsant über Gut, Böse und das viele dazwischen.
Ab einer gewissen Liga ist es durchaus nicht verpönt, eigene Werke zu zitieren, siehe „Figaro“ im „Don Giovanni“. Bei Juli Zeh klingt das so: „In Bracken ist man unter Leuten. Dann kann man sich nicht mehr so leicht über die Menschen erheben.“ Da schlägt sie die Brücke von „Unterleuten“ (2016), ihrem wuchtigen Gemeinheiten-Panorama aus der ostdeutschen, teils westdeutsch unterjochten Provinz, zu ihrem diese Woche erschienenen Roman. Er heißt „Über Menschen“.
Alles ist kleiner als damals in Unterleuten, der Seitenumfang, das Personal, die meisten Katastrophen auch. Vielleicht wegen des Abstandsgebots, es ist nämlich auch der erste nennenswerte Corona-Roman in unserer Sprache. Corona ist schuld, dass Dora Stadtflucht begeht. War es nicht schon schlimm genug, dass ihr Partner Volker sich zunehmend als Mülltrennungspolizist des gemeinsamen Haushalts gerierte, was sie „politischen Waschzwang“ nennt? Covid-19 aber gibt ihm das Zeug zum Beziehungsterroristen; am Ende verbietet er ihr, mit dem Hund rauszugehen. Ein kleines Erbe, dazu die gut dotierte Stelle als Werbetexterin – so kommt die Frau zu etwas Land samt Gutsverwalterbruchbude.
Sie setzt auf eigenes Gemüse, er singt das Horst-Wessel-Lied
Das liegt in Brandenburg und reimt sich mit dem (erfundenen) Ortsnamen Bracken auf Polacken, Baracken, Kanaken und mehr. Dass Vokabeln, die Doras Kaste eigentlich fremd sind, in ihren Kopf gelangen, liegt in der Luft. Neben Eichelhähern und durstigem Sandboden finden sich in der neuen Heimat viele AFD-Freunde und solche, die sich vorstellen mit „Ich bin der Dorf-Nazi“. Das ist Gottfried und Doras neuer Nachbar. Sie setzt auf eigenes Gemüse, er singt das Horst-Wessel-Lied und schnitzt gern.
Juli Zeh ist ein ziemliches Kunststück gelungen. Zwar lädt sie üppig Klischees auf gut 400 Seiten ab, die aber höhlt sie per Lauf der Dinge mit Witz und sacht dosierter Emotionalität unerbittlich aus. Treu ist sich die Bonner Wahl-Brandenburgerin geblieben als Chronistin, die weder Freund noch Feind kennt. Doras Blick ist ja nicht nur ein entsetzter auf braune Dumpfbacken nebenan. Er gilt nicht weniger der Berliner Hipsterblase, der Wahnarchitektur namens „Open Space“ und denen, die mehr Zeit in Social-Media-Profile investieren „als in real existierende Freundschaften“. Ihre Erkenntnis, dass die Schönheitsoffensive neuer Provinz-Bahnhöfe aus einer „Betonplattform mit Uhr“ besteht, zählt zu den vielen hübschen Pointen eines Romans, den man in seinen kleinen Volten an einem Stück verschlingt – und dafür auch die scheußlich-kitschige Gesellschaft jener Hündin in Kauf nimmt, der Zehs Dora permanent menschliche Züge zuschreibt.
Ist in der Pandemie egal, wer einem zur Mangelware Frühkartoffeln verhilft?
Sind Nazis immer Nazis? Sind Wessis um Klassen besser? Ist in der Pandemie egal, wer einem zur Mangelware Frühkartoffeln verhilft? Juli Zehs Werk ist nicht weniger als ein bemerkenswert amüsanter Roman über Gut, Böse und das viele dazwischen. Ein bisschen sehr konstruiert, ein bisschen sehr von den Strippen des Schicksals gezogen, gewiss, aber das stört ganz selten.
Ihr großes Thema verhandelt Juli Zeh charmant ergebnisoffen an einem Ort, der uns in all seiner Widersprüchlichkeit als dunkeldeutsches Bullerbü begegnet. Wen wundert es da noch, dass das Happy End titelschuldig „über Menschen“ himmelhoch hinauswächst. Es ist: eine Beerdigung.