Essen. Meisterhaft: Christoph Ransmayr erzählt in seinem neuen Roman „Der Fallmeister“ atemberaubend schön von einer aus den Fugen geratenen Zukunft.
Die Elbmündung ist kriegsgefährdetes Gebiet, hier regieren die Deichgrafen, sofern sie noch einen mehrstöckigen Fluchtturm haben. Die Küsten sind verschwunden, überall ist Wasser. Die Halligen sind schon vor Jahren als Vorposten aufgegeben worden. So ist das, wenn die Polkappen schmelzen. Hin und wieder droht Ärger mit ein paar schießwütigen Friesen. Wir sind in irgendeiner Zukunft. Es ist Schluss mit fossilen Energien, alles ist aufs Wasser fixiert, über das ein paar Syndikate herrschen, weswegen manchmal Krieg geführt wird. Sickergifte führen zu zusätzlicher Verknappung. Die meisten staatlichen Allianzen in Europa sind zerbrochen, auch Amerika ist untergegangen. Überall entstanden Zwergstaaten, und überall gibt es zu viele Menschen. „Jeder für sich“, steht auf einem T-Shirt.
In der Welt ist es eng, das Netz ist instabil und wenige stockfleckige Bücher gibt es nur noch in Museen. Der Nachrichtentausch untereinander ist reduziert auf Bildschirme und Projektionsflächen. Auch das verhindert Freundschaften und zwischenmenschliche Zuneigung. Es ist die große Kunst des Österreichers Christoph Ransmayr, wie er in kunstvoll-präzisen, messerscharfen und gnadenlosen Satzperioden diese Dystopie entwickelt und als aus unseren Verfehlungen erwachsenes Modell plausibel macht mit Menschen wie Lemmingen am Abgrund. Wie gemeißelt ist seine Sprache, musikalisch, unverbraucht und von einer Brillanz, dass man sich immer wieder Passagen anstreichen möchte, um sie wieder und wieder zu lesen. Allein wie er immer neue Bilder für die Macht des Wassers findet in seiner soghaften Parabel, belegt seine Meisterschaft.
Sprachliche Brillanz und fünf Tote in der Grafschaft Bandon
Alles beginnt mit fünf Toten in der Grafschaft Bandon. Sie sind mit ihrem Boot den vierzig Meter hohen Wasserfall des Weißen Flusses hinabgestürzt, dessen Tosen jeden Hilferuf verschluckte. Dieser „Große Fall“ ist als einziger Ort in Zentraleuropa seit Jahrzehnten unverändert. Treppenförmig sind Kanäle am Felsmassiv angeordnet, in denen der Fallmeister mit geschicktem Öffnen und Schließen von Schleusen und Ventilen die Schiffe durch Tore, Abflüsse und Flutungen navigiert. Einen Fehler darf er nicht machen.
Fallmeister ist der Ehrentitel dieses Schleusenwärters, dessen Arbeit noch in eine andere Epoche gehört. Immer mal gab es Unfälle, die Felswand ist gepflastert mit Gedenktafeln für die Toten, die wie Harpunen talwärts geschossen sind. Doch diesmal sieht es nicht nach Tragödie, sondern nach Mord aus. Klar, dieser Mann der Vergangenheit, der vor Ort auch ein Museum betreut, galt als jähzornig, doch ließ er seinen Wutausbrüchen nie rohe Gewalt folgen. Warum also soll er das getan haben?
Die neue Aristokratie der Hydrotechniker und ein Inzest
Um genau auf diese Frage Antworten zu finden, kehrt der Sohn zurück, der als studierter Hydrotechniker zur neuen Aristokratie gehört und weltweit Kraftwerke baut. Ein Jahr nach der Tat hat sich auch der Fallmeister in die Fluten gestürzt. Vielleicht war er einsam, weil das Aufenthaltsrecht seiner einst aus den dalmatischen Kriegen geflohenen Frau Jana nicht verlängert wurde und man sie zurück in ihre Heimat deportierte? Vielleicht will der diese Geschichte erzählende Sohn auch nur zu seiner bei Hamburg lebenden vier Jahre älteren Schwester Mira. Zwei Jahre war er nicht hier. Nun hat sie sich ihm entfremdet, doch er begehrt sie wie keine andere, nachdem er sich einmal ekstatisch mit ihr vereinigt hat. Ohnehin ist in Bandon das Inzestverbot aufgehoben, weil man sich hier selbst genügt.
Die Gedanken des Heimkehrenden sind noch voll von Erinnerungen an das Wasserfest in Phnom Penh, an dem er jüngst teilgenommen hatte. Hier wird die Strömungsumkehr des Flusses gefeiert, die sinnbildlich steht für die Rückkehr in eine bessere Vergangenheit. Unter gewissen Gegebenheiten ist so ein Wechsel der Fließrichtung möglich, und vielleicht gibt es ja doch einen Zusammenhang zwischen einer solchen alle vermeintlichen Gesetze übersteigenden Absonderlichkeit und dem Verschwinden des Vaters?
Der vielgereiste Großschriftsteller Christoph Ransmayr jedenfalls kann sich und uns eine solche Anderswelt erdenken. Es macht die Größe seiner Literatur aus, wie er mit seiner grandiosen Wassermusik den puren Pragmatismus unserer Nachrichtenwelt übersteigt und überwindet.
Christoph Ransmayr. Der Fallmeister. Eine kurze Geschichte vom Töten. Roman. S. Fischer Verlag. 220 S., 22 €.