Essen. Paul Stanley, Co-Frontmann von Kiss, veröffentlicht das erste Album mit „Soul Station“ – und verblüfft mit legendären Soul- und R&B-Klassikern.

Stanley Bert Eisen, so der bürgerliche Name von Paul Stanley, ist seit 1973 unter dem Namen „The Starchild“ neben Gene Simmons der Co-Frontmann von Kiss, normalerweise bekommt man ihn nur in voller Montur und mit Make-Up zu sehen. Jetzt aber zeigt sich Stanley als Sänger der Formation Soul Station nicht nur abgeschminkt, sondern verblüfft auf dem Album „Now And Then“ als bravouröser Interpret legendärer Soul- und R&B-Klassiker sowie einer Handvoll sich harmonisch einfügender Eigenkompositionen. Steffen Rüth unterhielt sich mit dem 69-Jährigen, der einen erwachsenen Sohn aus erster Ehe hat und mit seiner zweiten Frau sowie drei gemeinsamen Kindern (14, 12 und 9 Jahre alt) in Los Angeles lebt, per Videoanruf. Paul Stanley hat sich vor einem weißen Kamin drapiert, er trägt ein Hemd mit Blumenmuster, die schwarzen langen Haare liegen perfekt.

Mr. Stanley, Sie haben einen wirklich schicken Kamin.

Paul Stanley (lacht): Danke, ich mag den auch sehr. Das ist der Kamin in unserem Schlafzimmer.

Es ist 9 Uhr morgens in Los Angeles. Sind Sie du gut in den Tag gestartet?

Oje, da sprechen Sie etwas an, das mir peinlich ist. Ich lag vor zwanzig Minuten noch im Bett und war am Schlafen. Ich hatte mir den Wecker nicht gestellt, weil ich dachte, ich würde schon von selbst wachwerden. Nun ja, ich wurde aber nicht wach. Jetzt habe ich mir ganz schnell das Hemd übergeworfen und mich hierhergesetzt.

Kaffee?

Leider nein. Ich musste eine Entscheidung treffen: Kämmen und anziehen oder Kaffee machen. Ich entschloss mich, lieber gut auszusehen als mich gut zu fühlen.

Sie können ja das Album Ihrer Band Soul Station auflegen. Das macht auch munter.

Nicht wahr? Diese Platte, nun, ich will mich nicht selbst bauchpinseln, aber sie macht mein Leben Tag für Tag ein bisschen heller und schöner. Ich liebe das Album auf eine ganz interessante Weise, nämlich fast so, als wenn es gar nicht mein Album wäre. Ist es ja auch irgendwie nicht. Es ist unser Album. Soul Station ist eine Gemeinschaft aus 17 Menschen mit ganz vielen unterschiedlichen Nationalitäten und Ethnien. Wir sind wie eine riesengroße Familie, von der ich ein Teil bin.

„Ich singe diese Lieder schon mein ganzes Leben lang“

Die Arrangements klingen in der Tat sehr warm, sanft und entspannt. Und Sie singen diese alten Lieder, als hätten Sie Ihr Leben lang nichts anderes gemacht.

Diese alten Lieder, wie Sie sagen, sind für mich nicht alt. Sie sind zeitlos und somit auch für immer jung. Ich höre sie schon mein ganzes Leben lang. Und nicht nur das: Ich singe sie auch schon mein ganzes Leben lang.

Auch Zuhause?

Ständig. Diese Songs wie „Could It Be I’m Falling In Love“, „Baby I Need Your Loving“ oder „The Tracks Of My Tears“ sind solch ein fester Bestanteil meiner DNA, dass ich meistens gar nicht merke, wenn ich einen von ihnen im Haus anstimme. Meine Kinder und meine Frau müssen mich dann daran erinnern, dass ich inbrünstig am Singen bin.

Indem sie was tun?

Indem sie einstimmen (lacht). Meine Kids finden diese Songs supercool. Ständig höre ich gerade eines von ihnen „O-O-H Child“ singen und bin jedes Mal ganz stolz. Diese Songs sind Teil meiner Historie. Sie haben mich zu dem Menschen gemacht, der ich bin. Und ich habe den Eindruck, dass ich meinen Kindern diese Liebe zum klassischen Soul weitergegeben habe.

Wie alt waren Sie, als diese Leidenschaft begann?

Ziemlich jung. Ich bin in New York aufgewachsen, und als ich acht war, zogen wir von Brooklyn nach Queens. Dort gab es einen Plattenladen, Triboro Records, in den ich am liebsten eingezogen wäre. Tausende von Vinylplatten hatten sie dort. Meine ersten Live-Konzerte waren von Otis Redding und Solomon Burke. Ich hörte Sam Cooke und Jackie Wilson, noch bevor ich Led Zeppelin und die Beatles entdeckte. Meine musikalischen Wurzeln sind sehr breitgefächert. Auch wenn die Leute diese Art von Musik noch nicht mit mir assoziieren, ist sie doch ein sehr maßgeblicher Teil meines Fundaments.

„Ich möchte diese Songs nicht verfremden oder auf den Kopf stellen“

Die meisten Menschen kennen Sie natürlich seit bald fünfzig Jahren als Co-Sänger und Gitarrist „The Starchild“ von Kiss. Wie reagieren denn die Kiss-Fans auf Soul Station?

Mit einem Lächeln im Gesicht. Viele der Songs in unserem Programm erkennst du sofort wieder. Ich meine, wie könnte man diese wunderbare Musik nicht lieben? Auf unserem Album „Now And Then“ sind auch fünf selbstgeschriebene Songs, die möglichst nah dran sind am Geist der Klassiker. „Save Me (From You)“ könnte locker auch aus der Motown-Ära stammen. Ich finde, nur eine Sorte Musik zu hören, das ist so, als wenn du immer nur eine Sorte Nahrung zu dir nimmst. Du bekommst auf diese Weise nicht genug Nährstoffe. Und langweilig ist es auch. Wenn die Leute sagen „Ich höre nur Hard Rock“ oder „Ich mag nur Jazz“, dann verkaufen sie sich selbst unter Wert. Warum denn nicht mal etwas Neues ausprobieren?

Sie singen bei Soul Station in einer anderen Tonlage als bei Kiss. Warum?

Ja, ich nehme die Stimme etwas herunter. Mein Gesang ist ein wenig subtiler, auch tiefer. Ich wollte meine Stimme auf diesen Liedern besser kontrollieren und ausbalancieren können. Die Präzision beim Singen ist mir mit Soul Station besonders wichtig. Ich will niemanden kopieren oder imitieren, aber ich möchte diese Songs auch nicht verfremden oder auf den Kopf stellen. Ich singe sie mit einem deutlichen Bekenntnis zur Original-Melodie und ohne vorzugeben, jemand anderer zu sein, als der, der ich bin.

Wann haben Sie Soul Station eigentlich ins Leben gerufen?

Ungefähr vor fünf Jahren. Wir waren anfangs sechs Musiker und hatten so viel Spaß mit diesen Stücken, dass wir beschlossen, weiter zu machen, mehr live zu spielen und irgendwann auch ein Album aufzunehmen. Mit der Zeit fanden wir, dass wir immer mehr Leute brauchen – mehr Bläser, mehr Streicher, so wuchs und wuchs die Band zu etwas immer Größeren. Diese Musikerinnen und Musiker sind ja auch nicht irgendjemand, sie sind die Allerbesten ihres Fachs. Manche spielten schon mit Frank Sinatra zusammen, mit Smokey Robinson oder mit Whitney Houston. Und alle hatten Lust auf Soul Station.

Wie kompliziert war es coronatechnisch, ein Album mit 17 Leuten im Studio einzuspielen?

Zum Glück hatten wir die Aufnahmen noch ganz am Anfang der Pandemie erledigen können. Einige Kleinigkeiten haben wir später mit Masken im Studio vollendet, aber der weit überwiegende Teil war vorher fertig.

Was ist das Besondere an Soul Station?

Unsere Diversität macht diese Musik erst so richtig stark. Wir sind multinational, multiethnisch, multireligiös, multi-was-auch-immer. Alle Sorten von Menschen, die du dir vorstellen kannst, spielen in dieser Band zusammen.

„Diese Songs und diese Texte bilden die Essenz des Lebens ab“

Die Songs auf „Now and Then“ handeln durch die Bank von der universellen Liebe, sei es zum Partner oder Partnerin, zu den Kindern, zu Gott. Wie wichtig sind gerade heute diese positiven, dabei im Grunde schlichten, Botschaften aus den Sixties?

Diese Songs und diese Texte bilden die Essenz des Lebens ab. Ich will nicht zu philosophisch werden, aber wären wir denn ohne die Liebe und ohne unsere Liebe mit anderen Menschen teilen zu können? Wir Menschen brauchen einander, nicht ohne Grund entscheiden sich die meisten von uns, ihr Leben mit anderen zu teilen. Und diese Lieder sind einfach so eloquent, so elegant und so klug, dass sie mit einfachen Worten, aber sehr wirkungsvoll, alles sagen: „Ich habe Fehler gemacht, aber lass es uns weiter versuchen“, „Ich liebe dich“, „Du fehlst mir“. Das sind alles reale Lebenssituationen. Die Leute mögen unterschiedliche Weltanschauungen haben, aber diese Lieder zu hören und diese Emotionen zu teilen, das verbindet sie und bringt sie einander näher.

Sie sind seit geraumer Zeit mit Kiss auf „End Of The Road“-Abschiedstournee. Nach Stand der Dinge könnten die für November geplanten Termine in Australien die ersten sein, die wieder stattfinden. Ist Soul Station die Band, in der Sie irgendwann alt werden wollen?

Ich weiß noch gar nicht, was ich tun werde. Ich kann auch jetzt nicht sagen, wie lange es mit Kiss weitergeht und was danach kommt. Diese Ungewissheit macht das Leben für mich magisch.

Sie stört Sie also nicht?

Kein bisschen. Es ist doch herrlich, nicht zu wissen, was der nächste Tag bringt. Ich möchte gesund bleiben, meine Kinder aufwachsen sehen und glücklich sein. Ich bin überzeugt davon, dass uns im Leben alle Möglichkeiten offenstehen.