Bochum. Bochums kostbare Figurentheater-Sammlung gab es lange nur als Schatz in Kisten. Nun kann jeder ihre schönsten Stücke sehen, per Brille, virtuell.
So hart das sein mag, jeden Tag eins mit der Pritsche draufzukriegen – ein Dauerdasein im kartonierten Sarg mit schützender Pergament-Decke ist im Grunde ja auch kein Kasperle-Leben. So aber war es lange für 200 Artverwandte in Bochum. Ihre Heimat: der 1902 gebaute, stolze und wegen seines noblen Villen-Kostüms längst denkmalgeschützte Wasserspeicher an der Hattinger Straße. Ihr Besitzer: das „Deutsche Forum für Figurentheater“. Ein Name, der kaum andeutet, wie die Ruhr an Theaterhelden aus Chaozhou und Fujian kam, an die erst im Tanz auflebenden Marionetten Myanmars und die düsteren Maskenwesen Balis.
Sie beginnt vor bald 100 Jahren. Der Bochumer Fritz Wortelmann ist Journalist, Schriftsteller, Dramaturg. Vor allem aber ist er vernarrt in eine Kunstform, die nur Ahnungslose Kinderhänden überlassen: Puppenspiel. Wortelmann (1902-1978) wird nach dem Zweiten Weltkrieg zu einer bundesdeutschen Institution. Er ist einer der Gründer des Zentrums für Puppenspiel, er holt für Aufführungen die Besten ihres Fachs ins Revier. Und er reist und kauft in aller Welt, was seine große Liebe an Gutem und Schönem zu bieten hat. Eine Sammlung entsteht. Vieles, was sie birgt, ist heute nahezu unbezahlbar.
Kabinett der Mimen
Das ist das historische Kapital, dessen Zins erst seit kurzem publikumswirksame Züge trägt. „Puppets 4.0“ heißt das und bedeutet: Das Kabinett der Mimen, die ohne Menschenhand nicht leben können, ist ab sofort keine Verschlusssache mehr. 56 herausragende Stücke sind nun kostenlos und für Jedermann zum Greifen nah.
Ja, berühren Sie die Figuren ruhig, da passiert nichts! Das jüngste Museum des Ruhrgebiets gibt’s nur im Kopf, es ist imaginär! VR-Brille (Virtuelle Realität) auf und und losspaziert durch fünf Räume vom Mittelaltermarkt bis zum asiatischen Tempel. Berührungsängste mit Stabpuppe oder Schattenfigur? Unnötig! Fragen Sie den Autor dieser Zeilen bitte nicht nach technischen Details, aber ob sie nun einen 500 Jahre alten Noroma-Kopf aus Japan ertasten oder Schlaubergerwissen sammeln (von der Puppe als chinesischer Grabbeigabe bis zu jenem maskenbedingten Sauerstoffmangel, der balinesische Barongtänzer in Trance versetzt): Das geht alles mit dem kleinen Laien-Finger.
Ohne Technik ist der Raum puppenleer
Denn die plastische Ausstattung steckt allein in der Brille. Ehe wir sie im Speicher aufsetzen, ist der Raum puppenleer. Ein Hexenwerk, das jungen Gamern selbstverständlich ist, das gereifte Publikum aber in Staunen versetzt.
Mittel der Stadt und des Bundes ermöglichten ein Museum, in das man nicht einmal selbst kommen muss: „Bei uns oder bei euch“ wirbt das Team um Forum- und Fidena-Leiterin Annette Dabs. Wer also nicht in den Speicher will oder kann, den besucht die Truppe für den Rundgang, „von der Schule bis zum Seniorenheim“, sagt Dabs.
Perfekte 3-D-Ansicht durch die VR-Brille
Viele Monate hat ihr Team die Bausteine dieses Coups zusammengesetzt, in dem – was für ein schönes Gleichnis fürs Theater – nichts real ist und doch alles wahr. Lange Arme bekamen sie vom ewigen Halten der Puppen, bis der Computer alle 380 (!) Fotos pro Figur im Kasten hatte – eine zentrale Bedingung für die perfekte 3-D-Ansicht durch die Brille.
Puppen! Mehr als ein Vorhang tut sich auf, wenn man einmal hier ist. Eine Welt aus Ritual und Geheimnis, eine Welt, in der der Schatten nicht nur Technik ist, sondern auch dunkle Historie sein kann (hässliche Judenfiguren ergänzten bei den Nazis das Kasperle-Theater).
„Puppets 4.0“ zu internationalen Festivals eingeladen
Das Modell aber leuchtet bereits in alle Welt. Drei Einladungen zu internationalen Festivals hat das Forum für „Puppets 4.0“ schon in der Tasche. Und die Menschen, die (vor dem Lockdown) hier schon zu Besuch waren, machten der Sache, ob sie noch in der Schule sind oder kulturbeflissene Betagte, die schönsten Komplimente, Eines davon war vorbehaltlos einsilbig: „geil!“.