Essen. Unsere Reihe „Ändert Corona alles oder nichts?“ Einst Konsum-Promenade der Zukunft, heute voll von Lücken: Die Geschichte der Fußgängerzone.
Der Dortmunder Städteplaner Rolf Junker, der mit seinem Büro schon viele deutsche Städte von Ahaus bis Zweibrücken beraten hat, nennt Fußgängerzonen herkömmlichen Schlages „Kulisse für eine Inszenierung, die schon längst nicht mehr stattfindet“; in den Innenstädten werde längst ein anderes Stück gespielt, das mit der Rennbahn für die möglichst häufige Benutzung von Kredit- und Giro-Karten vergangener Jahrzehnte nicht mehr viel zu tun habe. Die immer häufigeren Laden-Leerstände wirken in der Tat wie Zahnlücken, und man weiß nicht, wie viel Leben noch in diesem Antlitz steckt. Corona-Karies, so viel steht fest, ist das allerdings nicht.
Die erste und lange Zeit einzige Fußgängerzone war die von vielen Waren- und Kaufhäusern gesäumte, sehr schmale Limbecker Straße in Essen. Ihr Pflaster wurde am 14. Oktober 1927 von der Stadt für Pferdefuhrwerke und Autos gesperrt. Aber erst in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg erlebte die Fußgängerzone allmählich ihre Karriere als Standardlösung für die Gestaltung deutscher Innenstädte.
Es begann mit der Limbecker – und der Lijnbaan in Rotterdam
Das Jahr 1953 kann als Beginn dieser Karriere gelten: In diesem Jahr wurde mit der Rotterdamer Lijnbaan eine Fußgängerzone eröffnet, die zum Modell für ganz Mitteleuropa werden sollte. Die Innenstadt von Rotterdam war 1940 von deutschen Fliegerangriffen in Grund und Boden gebombt worden, einzig die Laurentiuskirche ragte noch aus der Trümmerlandschaft empor. Eine Katastrophe für die Bewohner – die nach dem Krieg als städtebauliche Tabula Rasa zur Chance für eine gründliche, durchdachte, rationale Neuplanung wurde. Ihre Grundlage war die vom Architektur-Guru Le Corbusier durchgedrückte Vorstellung von der Großstadt der Zukunft, ausgehend vom Ideal der funktionalen Stadt, wie sie führende Architekten in der „Charta von Athen“ entwickelt hatten. Die Stadt und ihre Funktionen wie Wohnen, Arbeiten, Einkaufen sollten entflochten werden: Klar gegliedert in den City-Kern (als Fußgängerzone), die Wohnbebauung am Rand, die Umgehungsstraße und dann das Umland, die Vorstadt.
Städte sollten gegliedert sein und auf jeden Fall autogerecht – die Fußgängerzone war der Tribut an den Umstand, dass man überall sonst mit dem Auto hinkommen wollte und dieses auf den Straßen auch verdrängungsfreudige Priorität hatte. Fußgänger wurden in den Untergrund, in Busse und Straßenbahnen verbannt oder an den Rand gedrängt, genau wie Radfahrer.
Treppenstraße in Kassel, Holstenstraße in Kiel, Schulstraße in Stuttgart
Die 18 Meter breite und 1100 Meter lange Lijnbaan bekam nach einem Architektenwettbewerb, den das Büro van den Broek & Bakema gewann, eine fast kleinstädtisch anheimelnde zweigeschossige Randbebauung; erst dahinter erhoben sich elfgeschossige Wohn- und Bürobauten in Scheibenform. Die Versorgung der Geschäfte erfolgte von Straßen auf ihrer Rückseite; zudem wurde die Einkaufszone von Querstraßen gekreuzt, auf denen die Kundschaft ihre Autos parken und einen bequemen Weg in die Fußgängerzone haben sollten – ein Prinzip, das später auch bei der Umwandlung der Kettwiger Straße in Essen zu einer Fußgängerzone angewendet wurde.
In Deutschland folgten aber zunächst bereits Ende 1953 die Einrichtung von autofreien Einkaufszonen mit der Treppenstraße in Kassel, der Holstenstraße in Kiel und der Schulstraße in Stuttgart. Und die Fachzeitschrift „Baukunst und Werkform“ jubelte 1958: „Während der Fußgänger in den Verkehrsstraßen unserer Städte durch den unheimlich zunehmenden Verkehr immer mehr an die Wand gedrückt wird, findet er hier etwas, was ihm seit Beginn des industriellen Zeitalters immer mehr verlorengegangen ist – Raum zum ungestörten Spazieren und Einkaufen, zur Entspannung und zur menschlichen Begegnung.“
So viel Menschen wie sonst nur in Sportstadien
Ende der 60er-, Anfang der 70er-Jahre sollte fast jede deutsche Stadt mit mehr als 50.000 Einwohnern ein solches irdisches Paradies zur Verfügung stellen. Und in dem Maße, in dem Einkaufen zur sinnvollen Freizeitbeschäftigung wurde, mit den 90er-Jahren neudeutsch als „Shopping“ dann gar zum Event, wuchsen die Fußgängerzonen zu Orten, an denen sich so viele Menschen begegneten wie sonst nur im Sportstadion oder bei Demonstrationen.
Die streng funktionale Aufteilung der Städte aber und mit ihr das Modernitätsversprechen wurde im Laufe der Jahrzehnte zunehmend als seelen- und mitunter sogar verwahrlost empfunden, die autogerechte Stadt geriet in Misskredit, Alexander Mitscherlich sprach von der Unwirtlichkeit der Städte, die viele auch so empfanden; zugleich setzte sich seit Mitte der 70er-Jahre das Ideal der denkmalgepflegten und nicht mehr als rückständig, eng und unkomfortabel, sondern als gemütlich, ja kuschelig empfundenen, reich verzierten bis verschnörkelten Altstadt durch, idealerweise bevölkert von Fachwerk oder Gründerzeit- bis Jugendstil-Architektur.
Bequemlichkeit als Antriebsfeder
Doch die klare Aufteilung zwischen Einkaufszonen für Fußgänger und autogerechten Städten ringsum war in der Folge vor allem dann umstritten, wenn Kaufleute der Innenstädte verlangten, dass die Kundschaft mit dem Auto möglichst bis vor jedes Geschäft vorfahren können sollte. Sie schätzten die Rolle der Bequemlichkeit als eine der Haupt-Antriebsfedern im Leben der Menschen richtig ein und die fürchteten Konkurrenz – erst die der Einkaufszentren und Shopping-Malls, dann die des Internet-Handels. Die kompromisslosen Verteidiger der autofreien Innenstadt haben vielleicht sogar einen gewissen Anteil daran, dass eben diese Innenstädte zunehmend menschenfrei geworden sind, auch vor Corona.
Bleibt die Frage, wie Fußgängerzonen eine andere, neue Zweckbestimmung jenseits von Einkaufserlebnissen zu geben wäre. Eine der nächstliegenden Ideen wäre, den Leerstand mit Kunst und Kultur zu füllen. Es könnte verschiedenen Kunstformen in der Tat nicht schaden, sich auf die Straße zu trauen, Kontakt mit der Wirklichkeit aufzunehmen, wie das auch in den 70er-Jahren schon einmal Programm war. Man muss sich nur darüber im Klaren sein, dass Kunst und Kultur nicht als Reparaturbetrieb für Sozialstrukturen taugen, die in die Brüche gegangen sind, vielleicht sogar aus guten Gründen. Und klar ist auch: Die Innenstädte mit Kunst und Kultur zu beleben, würde viel Geld kosten. Das allerdings hätte die Szene gerade auch bitter nötig.