Essen. Ein Essener Verein lädt seit 40 Jahren zu Vorlesestunden und Autoren-Begegnungen: Schon damals war die Freude am Buch nicht selbstverständlich.

Es gab noch kein YouTube, kein TikTok, es gab noch keine Playstation, keine Wii. Und trotzdem: Schien es auch vor einundvierzig Jahren offenbar schon nötig, dem Nachwuchs die Freuden des Lesens in freundliche Erinnerung zu rufen. Denn 1980 gründeten einige Essener Eltern den „Verein zur Förderung der guten Kinder- und Jugendliteratur e.V.“.

Begeben wir uns also auf eine Zeitreise in die 80er: Das Jugendzentrum Holsterhausen war die Keimzelle des Vereins, ein Kinderbuchladen in der Nähe stand Pate – und es half, dass die langjährige Vorsitzende Gisela Kühn zugleich einen der damals so beliebten Mutter-und-Kind-Turnkurse leitete, „da hat sie uns Mütter alle verhaftet“, erinnert sich Dagmar Mägdefrau. Viele, viele Bücherfeste wurden da gefeiert, viele Autorinnen und Autoren eingeladen. Manche mögen sich an Angela Sommer-Bodenburg erinnern und ihren kleinen Vampir, „wir hatten sogar einen qualmenden Sarg auf der Bühne“.

Heute ist Dagmar Mägdefrau (65) Rentnerin und Großmutter – und seit vier Jahren Vorsitzende eines Vereins, der zwar nur noch aus „20, vielleicht 25 Frauen“ besteht, gleichwohl noch immer Großes leistet. Mit Bollerwagen ziehen sie Sommers in die Parks, laden ein zur Vorlesestunde auf der Decke. In Schulklassen holen sie Autorinnen und Autoren, deren Honorare der Verein von Spendengeldern bezahlt. Denn: „Die Autorinnen und Autoren leben ja davon. Eine Autorin, Kathrin Schrocke, wurde mal von einer Schulklasse gefragt, was sie an einem verkauften Buch verdient: 50 Cent, war ihre Antwort. Meist haben Jugendbücher nur eine Auflage von 2000 Stück.“

Oft ist der Weg bis in die Klasse nicht ganz leicht für Dagmar Mägdefrau, gerade die Kontakte zu weiterführenden Schulen gestalteten sich schwierig, und so kommt es zu Erzählungen wie dieser: „An einer Schule, da hatte ich einfach Glück, ich stand auf dem Flur, und dann kommt mir eine ehemalige Freundin entgegen, die heute Sportlehrerin an der Schule ist – und die hat mich dann mit einer Deutschlehrerin bekannt gemacht.“

Dagmar Mägdefrau: „Das Vorlesen gibt den Kinder unheimlich viel“

Das klingt etwas mühselig und ist es vermutlich auch, also – warum tut Dagmar Mägdefrau sich das denn an? „Ich finde, diese Lesungen geben den Kindern unheimlich viel.“ Die Standardfrage bei der Suche nach Fördergeldern lautet: „Ja, ist denn so eine Lesung auch nachhaltig?“ Das lässt sich nun schlecht beweisen, aber Dagmar Mägdefrau hat auch hier eine schöne Geschichte zu erzählen: „An einer Schule war Sabine Bohlmann zu Gast mit ihrer Siebenschläfer-Reihe, und im Jahr darauf eine andere Autorin. Das Gespräch kam auf Brieffreundschaften, und plötzlich sagt ein Schüler der Klasse: Mit der Frau Bohlmann, mit der schreiben wir uns immer noch! So was ist doch toll, da freut man sich natürlich enorm.“

Wenn sie die Zeiten vergleicht, wenn sie zurückblickt auf 40 Jahre Picknickdecken-Lesungen – stimmt es, dass die Kinder heute das Vorlesen weniger gewohnt sind als früher? „Ich kann das so pauschal nicht bestätigen“, sagt Dagmar Mägdefrau. „Ich weiß noch gut, dass ich schon in den Anfängen Kinder hatte, die immer näher rund näher gerückt sind, die ich plötzlich auf dem Schoß und im Arm hatte, die ganz fasziniert zugehört haben. Und ich habe damals schon so im Stillen gedacht, das sind Kinder, denen zu Hause nicht vorgelesen wird, die kennen das gar nicht.“ Oder es gab Mütter, die am Rande von sommerlichen Lesestunden staunten: „Ich wusste gar nicht, dass mein Kind mit Büchern etwas anfangen kann!“

„Es gibt heute Kinder- und Jugendbücher, die sich sehr schwierigen Themen stellen.“

Vielleicht haben sich die Kinder und Eltern nicht so sehr verändert – aber die Bücher? Das etwas betuliche „gut“ ist längst aus dem Vereinsnamen gestrichen, er heißt jetzt nur noch „Verein zur Förderung der Kinder- und Jugendliteratur e. V.“. Die Literatur habe sich zwar verändert, sei aber keinesfalls schlechter geworden, so Dagmar Mägdefrau, die auf der Webseite des Vereins aktuelle Bücher rezensiert (und so wiederum Kostenlos-Exemplare für den Verein ergattert). Was ihr auffällt: „Es gibt heute Kinder- und Jugendbücher, die sich sehr schwierigen Themen stellen, sich zum Beispiel mit dem Tod auseinandersetzen. Als meine Kinder klein waren, da gab es so etwas gar nicht.“ Neu sei auch, dass komplexe Themen in Comics behandelt werden, aber muss das denn schlecht sein? „Und wenn ein Kind nur so etwas liest, finde ich das trotzdem völlig in Ordnung. Hauptsache, es liest überhaupt!“