Essen. Ändert Corona alles – oder nichts? Folge 1 unserer Reihe zur Krise fragt, ob die Rolle der Arbeit für unser Leben womöglich neu bewerten müssen.
Seit dieser Woche gilt die Heimarbeits-Pflicht; die Corona-Krise teilt die Gesellschaft also einmal mehr: in Homeofficer, Kurzarbeiter, gar Arbeitslose – und Weiterinsbürogeher, Supermarktkassierer, Krankenpfleger. Viele spüren: Selbst, wenn das Geld trotzdem auf dem Konto landet, fühlt sich erzwungenes Nichtstun oft nicht gut an. Haben wir uns zu sehr an die Rolle als Arbeitstier gebunden, unseren Wert, unser Selbstbewusstsein zu sehr abhängig gemacht? Macht die Krise uns eine gegenwärtige Schieflage endlich bewusst?
Was uns fehlt, wenn die Arbeit fehlt, weiß Gitta Jacob: Die Psychologin ist Autorin zahlreicher Bücher zum Thema Selbstwert (siehe Kasten). „Selbstwert ist einerseits eine Haltung zu sich selbst: ich bin gut so, wie ich bin, ich bin liebenswert“, sagt Jacob. „Andererseits wird er gespeist von bestimmten Erfahrungen, von Erfolgen im weiteren Sinne“ – das kann eine sportliche Leistung sein oder die Ausstellung eines Hobbyfotografen. Oder natürlich: ein richtig gut gemachter Job. Der Arbeit kommt darüber hinaus eine besondere Stellung zu, weil sie „auch ein gesellschaftliches Ranking abbildet“: „Wenn ich einen Job habe, der einen gewissen Status hat, kann ich für mich selbst und für andere einen sozialen Vergleich anstellen.“ Außerdem bietet Arbeit soziale Kontakte, das Gefühl, „ich bin eingebunden“.
In ihren Büchern stellt Gitta Jacob vier Säulen des Selbstwertes vor: die positive Einstellung zu sich selbst, das Vertrauen in seine Leistungen, die eigene Kontaktfähigkeit und ein gutes soziales Netz. Auf all dies stützt sich das Gefühl des Selbstwertes idealerweise – und wenn nun ein Standbein wegbricht, könnte man nicht einfach die anderen stärken? „Das macht viel Sinn“, sagt Gitta Jacob, „detaillierte Forschung dazu gibt es aber nicht“. Bei jungen Müttern, die aus dem Arbeitsleben herausgehen, sei aber zu beobachten: „Da steht das Soziale sehr im Vordergrund, da sollte der Selbstwert eigentlich enorm gefüttert werden. Und dennoch scheint es mir so, dass die Arbeitsrolle vermisst wird und ein Stück weit in die Mutterrolle übernommen wird.“ Nämlich durch eine gewisse „Professionalisierung“ des Mutterseins, „vor allem, wenn vorher beruflich schon einiges erreicht wurde.“
Gitta Jacob: „Immer, wenn es einseitig wird, wird es gefährlich.“
Grundsätzlich aber ist es so, sagt Jacob: „Immer, wenn es einseitig wird, wird es gefährlich.“ Heißt: „Jede Säule kann zusammenbrechen: Ich kann einen Schlaganfall erleiden und dann nicht mehr zur Arbeit gehen. Oder ich bin sehr leistungsorientiert im Sport und dann breche ich mir ein Bein. Oder ich gehe ganz in der Beziehung auf, aber dann verlässt mich mein Partner. Das kann einfach alles passieren.“ Sogar ohne Corona.
Womöglich hat gerade die Arbeit zu viel Raum in unserem Leben eingenommen? Womöglich sind wir in eine emotionale Falle getappt? Autor Ulrich Renz kritisiert etwa in seinem Buch „Tyrannei der Arbeit“ (2013) die „emotionale Managementtechnik“ großer Konzerne, die die Bürogemeinschaft gerne als große Familie inszenieren. Mit dem kleinen, feinen Unterschied: „Ein Familienmitglied gehört dazu, egal unter welchen Umständen. In einer Firma ist man nur zugehörig, solange man ihr von Nutzen ist.“ Eindrücklich beschrieben hat der amerikanische Schriftsteller Dave Eggers die Sogkraft einer Firma, die ihren Mitarbeitern rund um die Uhr eine Heimat gibt, bis hin zur allabendlichen Party und zur kollegialen Social-Media-Dauerschleife: „The Circle“ (2014) spielt im Silicon Valley und zeigt, wie gut sich Arbeit anfühlen kann, wie sehr Arbeit zur Heimat werden kann – und welche Gefahren dieses Gefühl birgt.
Iuditha Balint: „Das Selbstwertgefühl entsteht aus einer Identifikation mit der Gruppe.“
Nur: Nicht erst die New Economy hat entdeckt, dass die Erwerbstätigkeit eines Menschen auf dessen Selbstbild und -wert wirkt. Iuditha Balint ist Direktorin des Dortmunder Fritz-Hüser-Instituts für Literatur der Arbeitswelt und weiß: „Der Zusammenhang von Arbeit und Selbstwertgefühl, der heute so auffällt, weil Störungen gegeben sind, dieser Zusammenhang war schon im 17. Jahrhundert zu erkennen.“ Seit dem 19. Jahrhundert sei in der Arbeiterliteratur ein Stolz herauszulesen darauf, „ein Mitglied der Gesellschaft zu sein, das dazu beiträgt, dass die Gesellschaft funktionsfähig ist“. Ebenso deutlich sei der Stolz darauf, Arbeiter in einem Kollektiv zu sein: „Das Selbstwertgefühl entsteht aus einer starken Identifikation mit der Gruppe.“
Im Roman „Heinrich von Ofterdingen“ (1802) von Novalis etwa oder auch in Heinrich Heines „Harzreise“ (1826) wird der einzelne Bergmann beschrieben, „aber er ist mit einer Aura aufgeladen, die sich aus den Texten nicht ganz erklärt – wohl aber aus der Kulturgeschichte des Bergbaus heraus“.
Nicht nur die Zugehörigkeit und der gesellschaftliche Status, sondern auch die gewohnheitsmäßigen Abläufe sind wichtig für die Psyche – was sich ebenfalls früh in der Literatur niederschlägt: „In ‚Robinson Crusoe‘ trägt zum Beispiel eine Tagesstruktur zum Überleben bei“, zieht Iuditha Balint Daniel Defoes Roman von 1719 als Beispiel heran. In der Gegenwartsliteratur legt Wolfgang Herrndorfs Buch „Arbeit und Struktur“ (2013) eindrucksvoll Zeugnis davon ab, dass in der Isolation (in diesem Fall aufgrund einer Krebserkrankung) eben diese Arbeitsstruktur Halt geben kann.
Was hilft? Zum Beispiel eine Jogging-Challenge im Internet
Und selbst die Kritik an dem hohen Stellenwert, den die Arbeit einnimmt, ist alles andere als neu. „Das Recht auf Arbeitslosigkeit ist ein Diskurs, den es auch schon sehr lange gibt“, sagt Balint: 1883 erschien etwa „Das Recht auf Faulheit“ von Paul Lafargue, der eben dies forderte und vermutlich heute ein Verfechter des bedingungslosen Grundeinkommens wäre.
Was wir aber mit und gegen Corona tun können, wenn die Faulheit keinen Spaß mehr macht, wenn die Pandemie uns von beruflichen Erfolgen fernhält? Psychologin Gitta Jacob rät: Wir können uns selbst kleine Erfolgserlebnisse verschaffen, können uns „selbsteffektiv“ betätigen. „Zum Beispiel mit einer Jogging-Challenge im Internet“, bei der wir uns gegenseitig anspornen – wenn auch nur virtuell, aber doch in einer Gemeinschaft.