Essen. Der 73-jährige Ian Anderson plaudert in der Bandbiografie „Die Ballade von Jethro Tull“ von ersten Erfolgen – und Fehlschlägen. Ein Interview.
Vor genau 50 Jahren nahm Ian Anderson mit seiner Gruppe Jethro Tull den Welthit „Locomotive Breath auf“. Die Bandbiografie „Die Ballade von Jethro Tull“ erzählt nun die wechselvolle Geschichte einer der legendärsten britischen Formationen. Im Interview mit Olaf Neumann spricht der 73-Jährige über Tourneen mit Jimi Hendrix, eine gescheiterte TV-Show mit den Rolling Stones und Überlebensstrategien.
Mr. Anderson, 1956 hatten Sie als Neunjähriger mit Elvis Presley ein Erweckungserlebnis. Wissen Sie noch, was Sie in dem Moment fühlten?
Ian Anderson: Ich war fasziniert. Bereits mit sieben Jahren hörte ich das erste Mal Musik, die vom Blues beeinflusst war und extrem viel Betonung auf den Rhythmus legte. Mein Vater hatte 78er-Schallplatten mit Bigband-Jazz von Duke Ellington und Count Basie. Mit neun hörte ich dann Bill Haleys „Rock Around The Clock“ und Elvis Presley, wie er „Heartbreak Hotel“ sang. „Rock Around The Clock“ hatte noch mehr mit Bluegrass und Country & Western zu tun als mit schwarzer amerikanischer Musik. Ich hingegen bevorzugte Musik mit Ecken und Kanten. Die erste Platte, die ich mir kaufte, stammte von Johnny Duncan & The Bluesgrass Boys. Er sang darauf das putzige Lied „Last Train To San Fernando“.
Gab es damals auch in England eine Musikrichtung, die das Lebensgefühl der Jugend ausdrückte?
In den 1950ern schwappte über Großbritannien eine Welle von handgemachter Musik, die Skiffle genannt wurde. Schnell gespielter Folk, der vom amerikanischen Bluegrass beeinflusst war. Die Songs bestanden aus drei oder vier Akkorden und wurden viel in Wohnzimmer gespielt. Aus einer Teekiste, einem Besenstil und einer Schnur bastelte man sich einen Bass. Eine Menge Leute aus meiner Generation kamen auf diese Weise ohne Ausbildung zur Musik. Wir machten einfach Krach. Ein ähnliches Phänomen war 20 Jahre später der Punk. Auch Gary Numan konnte nicht wirklich Keyboard spielen, aber in den 1980ern hatte er sehr originelle Ideen für den Synthesizer. Technisch versierte Musiker kommen einfach nicht auf die simplen, aber großartigen Ideen, die naivere Musiker haben.
„Ich hatte eigentlich gar nicht vor, Flöte zu spielen.“
Sind Sie eher zufällig zum berühmtesten Flötenspieler der Rockmusik geworden?
Ich hatte eigentlich gar nicht vor, Flöte zu spielen. Mit 16 war ich Gitarrist und Sänger in einer Bluesrockband. Mit 18 hörte ich Eric Clapton spielen und dachte, ich sollte mir besser ein anderes Instrument suchen. Als meine Band einen versierteren Gitarristen gefunden hatte, stand es mir frei, mir ein anderes Spielzeug auszuwählen. Und so kam ich eher zufällig zur Flöte. Ich brauchte ein paar Monate, um ihr erste Noten zu entlocken. Als ich irgendwann Bluesstücke auf der Flöte spielen konnte, sollten wir auch schon im Marquee Club in London auftreten.
Die Produktion des Debütalbums von Jethro Tull kostete 1500 Pfund. War das damals viel Geld?
Für uns jedenfalls war es viel. Unser Manager hatte sich das Geld von der Bank geliehen, weil kein Produzent bereit war, mit Jethro Tull eine Platte zu machen. Sie fanden, die Flöte würde nicht zum Blues passen. Also nahmen wir die Platte auf eigene Faust in einem billigen Studio auf. Das fertige Produkt ist im Sommer 1968 bei Island Records erschienen und lief für ein Debüt sehr gut. Ich habe das Album „This Was Jethro Tull“ genannt, weil ich ahnte, dass meine nächste Platte ganz anders klingen würde.
Am 11. Dezember 1968 wirkten Jethro Tull beim Rolling Stones Rock’n’Roll Circus mit. War dieses TV-Event Ihr Durchbruch?
Nein, überhaupt nicht. Der Rolling Stones Rock’n’Roll Circus war ein TV-Special mit den Stones, The Who und John Lennon. Charlie Watts und Bill Wyman hatten uns Mick Jagger und dem Produzenten Michael Lindsay-Hogg als interessante unbekannte Band empfohlen. Zu der Zeit waren wir aber ohne Gitarristen, weil Mick Abrahams gerade ausgestiegen war. Mein Freund Tony Iommi von Black-Sabbath, die sich damals noch Polka Tulk Blues Band nannten, half uns aus. Da er aber die Songs nicht kannte, tat er nur so, als würde er spielen. Ich hingegen war live zu hören. Ein ziemlich peinlicher Auftritt.
Der Ihnen rückblickend nichts gebracht hat?
Nein, denn niemand hat den Rolling Stones Rock’n’Roll Circus damals gesehen. Die Aufnahmen verschwanden nach Brian Jones Tod im Juli 1969 im Archiv. Es wäre für ihn ein sehr unwürdiger Abschied gewesen, weil er bei dem Auftritt in schlechter Verfassung war. So sollte die Nachwelt sich nicht an den Gitarristen erinnern. Zynische Stimmen meinten, die Rolling Stones wollten den Film nicht veröffentlichen, weil die kraftvollen The Who Mick Jagger und Co. wirken ließen, als seien sie nur die Vorgruppe. Ich sehe das allerdings anders, weil ich bei den Proben einen extrem dynamischen Jagger erlebt habe. Als der Rolling Stones Rock’n’Roll Circus 1996 endlich als VHS-Kassette veröffentlicht wurde, waren wir längst bekannt. Andere Mitwirkende waren John Lennon und Yoko Ono.
„Die Besucher zerschlugen Glasscheiben im Wert von mehreren tausend D-Mark.“
Wie erinnern Sie die beiden?
Yoko Ono schrie und kreischte, was beim Publikum nicht besonders gut ankam. Man fand sie peinlich. Aber John Lennon, Eric Clapton und Keith Richards Blues-Jam-Session wurde sehr gefeiert. Es war einer der besten Momente dieser drei Tage, an denen gefilmt wurde.
Damals traten Sie auch in Bill Grahams berühmtem Fillmore East in Frisco auf und begannen eine Zusammenarbeit mit dem deutschen Konzertveranstalter Fritz Rau.
Graham mochte Jethro Tull, weshalb wir oft an der amerikanischen Ost- und Westküste spielten. Er war ein knallharter Typ, der sich zuweilen mit dem schwergewichtigen Led-Zeppelin-Manager Peter Grant prügelte. Zu mir war er aber immer sehr nett. Mit Fritz Rau kamen wir zusammen über eine Empfehlung von Jimi Hendrix. Er holte uns 1969 für eine ausverkaufte Show nach Frankfurt, bei der einiges zu Bruch ging. Die Besucher zerschlugen Glasscheiben im Wert von mehreren tausend D-Mark. Ich entschuldigte mich Jahre später bei Fritz für dieses schreckliche Verhalten. Bei dieser Show hatte er richtig draufzahlen müssen. Da meinte er lächelnd, die Veranstaltung sei für ihn eine gute Investition gewesen, weil wir danach noch viele Male erfolgreich für ihn gespielt haben.
1969 muss ein besonderes Jahr für Sie gewesen sein: Jethro Tull tourten als Vorgruppe von Jimi Hendrix durch Schweden und Dänemark und waren mit Led Zeppelin in den USA unterwegs.
In Stockholm spielten wir zwei Shows mit Jimi. Zu der Zeit war er auf dem Höhepunkt seiner Karriere mit vier großen Hits. Aber er hatte gute und schlechte Tage. Die besten Künstler haben eine Tendenz zur Sprunghaftigkeit. Ich erinnere auch Abende, an denen Led Zeppelin nicht besonders gut spielten. Manchmal gibt es auch technische Probleme oder die Band ist über irgendetwas verärgert. Wir waren damals nur die Vorgruppe. Es ist nicht besonders schwer, das Publikum 35 Minuten lang zu fesseln. Jimi Hendrix war berühmt für seine Jam-Sessions mit befreundeten Musikern.
„Der Jimi, den ich kannte, war eher ein ruhiger, bescheidener und nachdenklicher Typ.“
Haben Sie mal mit ihm gespielt?
Nein, habe ich nicht. Zu der Zeit hat er in London ein paar Mal mit Eric Clapton und anderen gejammt. Ich glaube, sein Manager hatte das arrangiert, damit die Zeitungen über ihn schreiben. Der Jimi, den ich eine Zeit lang kannte, war eher ein ruhiger, bescheidener und nachdenklicher Typ, der sich in einer Menschenmenge unwohl fühlte. Aber ein Jahr später hatte er eine Entourage um sich versammelt, die von ihm gefüttert wurde und ihn wiederum mit Substanzen fütterte, die ihm nicht gut taten. Leider verhaken sich verirrte Rock- und Popstars manchmal in gruseligen Leuten.
1975 haben Sie Monty Pythons „Ritter der Kokosnuß“ mitfinanziert. Die anarchistische Gesellschaftsparodie gilt als einer der lustigesten Filme aller Zeiten. Haben Sie das getan, weil die Monty Pythons ihrer Zeit voraus waren?
Die Monty Pythons waren nicht ihrer Zeit voraus, sondern sie kamen genau zur rechten Zeit. Der britische Humor hatte sich in den Sixties sehr stark weiterentwickelt und erreichte in der ersten Hälfe der Siebziger seinen Zenith. Es war ein sehr surrealer, verrückter und anarchischer Humor. Ich habe mir die Monty-Python-Filme angeguckt und fand, dass sie zu 50 Prozent großartig waren. Der Rest war weniger gelungen. Als ich gefragt wurde, ob ich Geld in ihr nächstes Projekt investieren wolle, weil sie Probleme bei der Finanzierung hatten, tat ich dies. Auch Led Zeppelin und Pink Floyd investierten in die Comedy-Truppe. Im Lauf der Jahre haben wir alle das Zehnfache zurückbekommen. Ich hätte auch gern ihren nächsten Film mitproduziert, „Das Leben des Brian“, aber George Harrison hatte beschlossen, dies allein zu tun. Jahre später fragte ich den Schauspieler John Cleese, warum ich damals keine zweite Chance bekommen habe. Da meinte er: „Uns wurde gesagt, dass die Originalinvestoren kein Interesse mehr hätten“. Wer hat Ihnen das gesagt? „George Harrison!“
Die Bandbiografie macht deutlich, wie hart das Leben eines fahrenden Musikers ist. Waren die frühen Jahre für Sie anstrengender als die späten?
Ich würde sagen, dass mir meine Karriere im Lauf der Zeit immer leichter fiel – bis zum Februar dieses Jahres. Ab dann wurde alles wieder sehr schwer. Man lernt, den Stress zu minimieren und Dinge besser zu organisieren. Unsere ersten Tourmanager waren noch ziemlich anstrengend, weil ich über nichts informiert wurde. Wenn dir gewahr wird, dass da einer auf deine Kosten in der besten Hotelsuite nächtigt, während du selber neben dem Fahrstuhl schläfst, solltest du etwas verändern. Ab 1974 habe ich praktisch das Management von Jethro Tull übernommen. Ich traf die Entscheidungen, schrieb die Musik und produzierte die Platten. Heute brauchen wir keinen Tourmanager mehr, weil ich das Organisatorische selbst am Computer erledigen kann. Wenn du das anderen überlässt, verschwenden die nur dein Geld.
„Ich bin die meiste Zeit im Büro und verwalte den Backkatalog von Jethro Tull.“
Das klingt nach einem 24/7-Job.
Nicht wirklich. Eine Europatour plane ich heute mit einer Schablone. Das schaffe ich in zehn Minuten, weil ich weiß, wie es geht. US-Touren sind aufwändiger, weil wir da mehr selbst organisieren müssen. Die Steuern sind auch komplizierter. In Deutschland zum Beispiel zahle ich mit Stolz den Solidaritätszuschlag. Es ist ein tolles Gefühl, einen Beitrag zur Wiedervereinigung zu leisten.
Warum sind Sie nach dem kommerziellen Durchbruch von Jethro Tull zurück nach England gegangen, wo die maximale Einkommenssteuer bei 83 Prozent und bei 98 Prozent für Einkommen aus Vermögen lag?
Viele britische Musiker sind damals in Länder mit einer niedrigeren Steuerrate ausgewandert. Wir von Jethro Tull dachten uns, dass Großbritannien nicht immer solch hohe Steuern wird erheben werden und kehrten zurück. Außerdem darf die im Ausland gezahlte Steuer auf die hiesige angerechnet werden. Aber wer weiß, was nach dem Brexit passiert. Der Gedanke daran jagt mir jetzt schon einen Schauer über den Rücken. Wir wollten kommendes Jahr eigentlich 65 Shows spielen. Ich glaube aber, dass Hallenauftritte kaum möglich sein werden, weil das Risiko einer Ansteckung wieder gestiegen ist. Selbst bei einer Auslastung von 50 Prozent schreibt kein Veranstalter schwarze Zahlen. Die Kosten für Sound, Licht, Hotel, Flüge, Versicherungen und die Crew sind bei zwei Zuschauern genauso hoch wie bei 2000. Ich kann meine Mitarbeiter auch nicht bitten, für nichts oder den halben Lohn zu arbeiten.
Wie verbringen Sie momentan Ihre Zeit?
Ich bin die meiste Zeit im Büro und verwalte den Backkatalog von Jethro Tull. Ich lese viel über Kunst und Fotografie. Ab und zu spiele ich auf der Platte eines Kollegen mit, aber ich bin momentan nicht motiviert, Konzerte zu spielen. Wir müssen jetzt wieder mit steigenden Covid-19-Todesfällen rechnen. Ich gehöre selbst zur Risikogruppe. Sollte ich mich infizieren, stünden die Chancen statistisch 1 zu 6, das Ganze zu überleben. Das ist wie Russisches Roulette.
Jethro Tull mit Mark Blake: Die Ballade von Jethro Tull. Hanibal Hardcover im Großformat, 224 Seiten farbig bebildert, 40 Euro.
Die Tour „Ian Anderson & Jethro Tull live“ soll in diesem Jahr auch in zwei Orte der Region führen: 18.7.2021 Dinslaken, Freilichtbühne Burgtheater; 04.10.2021 Essen, Lichtburg.