Essen. Die größte US-amerikanische Erzählerin der Nachkriegszeit wäre am 19. Januar 2021 100 geworden: Eine Erinnerung an Patricia Highsmith.

Man darf Patricia Highsmith durchaus die größte US-amerikanische Erzählerin der Nachkriegszeit nennen, auch wenn sie drüben nie die Anerkennung fand wie in Europa. Zu ihrem Heimatland verhält sie sich eher wie die Freiheitsstatue im Hafen von New York: Sie wendet ihm den Rücken zu. 


Geboren wurde sie heute vor genau hundert Jahren (am selben Tag wie Edgar Allan Poe, wie sie selbst bemerkte) in einer Problemfamilie in Texas. Sie trägt dann lebenslang den Nachnamen des verhassten Stiefvaters, lebt als junge Frau in Manhattan, absolviert das elitäre Barnard College, pflegt ein „hyperaktives Liebesleben“ (so ihre Biografin Marijane Meaker)… – und schreibt und schreibt. Texte für Comics, dann Kurzgeschichten, in denen sie auch ihre eigenen Gefühlswirren verarbeitet. Der Diogenes Verlag hat gerade eben, quasi als Geburtstagsgeschenk, eine Auswahl in einem hübschen Band mit dem Titel „Ladies“ herausgebracht; darin ist auch eine Geschichte, die sie mit achtzehn schrieb, über ein schottisches Frauenkloster, in dem ein Findelkind das einzige männliche Wesen ist und unter dem Namen Mary aufgezogen wird, was durch eine Explosion ein Ende findet.

Ihr zweiter Roman war eine lesbische Liebesgeschichte: "Carol"


Ihren zweiten Roman, eine lesbische Liebesgeschichte – das weibliche Begehren ist noch ein Tabuthema – lässt sie 1952 unter einem Pseudonym erscheinen und erst 1984 neu auflegen. Von der Brisanz des Themas gibt noch die Verfilmung aus dem Jahr 2015 (als „Carol“: Cate Blanchett) einen Eindruck. Highsmith befürchtet aber auch, den Erfolg ihres ersten Romans zu beschädigen, der bald von von Alfred Hitchcock verfilmt wurde. Tatsächlich wurde „Zwei Fremde im Zug“ (1951) als Buch wie als Film ein großer Erfolg und gilt bis heute als ein Meilenstein der Spannungsliteratur. Der ausgeklügelte Plan eines zweifachen Mordes „über Kreuz“ scheitert am Eindringen eines irrationalen Faktors – ein Grundmuster, das Highsmith vielfach und einfallsreich variieren wird. Über sich und ihre Bücher sagt sie: „Mich haben immer nur die kriminellen Anlagen und Möglichkeiten des Normalmenschen in der Gesellschaft beschäftigt, dabei ist mir die Aufklärung eines Mordfalls völlig gleichgültig.“


Nach 1960, sie ist jetzt fast 40, verlässt sie die USA, reist mit wechselnden Geliebten quer durch Europa, hat Wohnsitze in England, in Frankreich, Italien und der Schweiz. Zuletzt lebt sie immer einsamer bis zu ihrem Tod 1995 im Tessin, in einem selbst entworfenen Haus mit dem Charme eines Atombunkers. Man könnte Highsmith also auch eine Exilautorin nennen, nicht nur politisch, sondern vor allem existentiell. Immerhin gab es da auch Daniel Keel, der ihrer Literatur im Diogenes Verlag zu Zürich eine Heimat und verlegerische Fürsorge bot, wie kaum einem anderen Autor. Sichtbarstes Zeugnis dessen ist eine besonders schöne, sorgfältige edierte Werkausgabe ihrer Romane und Stories, die vor und nach dem Jahr 2000 in etwa dreißig Bänden (!) erschien.
Darunter sind selbstverständlich auch einige längst klassische Bücher, etwa „Venedig kann sehr kalt sein“ (1967 – keinesfalls mit Donna Leon zu verwechseln!) oder „Das Zittern des Fälschers“ (1969), das Resultat einer Tunisreise 1966 mit einer Freundin. Beides sind „mi­kroskopische“ Beispiele für den kulturellen Konflikt zwischen den USA und der europäischen oder auch der arabischen Welt. High­smith war eine frühe Autorin der Interkulturalität, wie auch eine feministische Autorin avant la lettre. 

Patricia Highsmith zerstört die sprachliche Ordnung nicht


Und sie ist eine Autorin der Irritation, der Verunsicherung und der Angst. Das zeigt sich schon im frühen und – auch wegen gleich mehrerer Verfilmungen – wohl bekanntesten Roman „Der talentierte Mr. Ripley“ (1955), in dem der Titelheld seinen reichen Kumpel Dickie vor der Küste von Mongibello mit dem Ruderblatt trifft, versenkt und bald beerbt. Wonach wir vier weitere Romane lang seinen Sisyphoskampf gegen Schuld und drohende Entdeckung begleiten dürfen.


Patricia Highsmith erzählt relativ konventionell, sie zerstört die sprachliche Ordnung nicht; aber sie versteht es, ihre Figuren und Leser durch die Spannungen und Schwingungen der Erzählung zu verstören. Ihre Sprache ist, wie ihr Freund Peter Handke sagte, „erleuchtend geheimnisvoll“. Vor allem dies hat sie mit einem der Größten, mit Franz Kafka gemeinsam, dem sie auf ihre Weise nachfolgt. In dessen „Amerika“-Roman erblickt der Held Karl Roßmann bei der Einfahrt in den Hafen von New York die Freiheitsstatue und glaubt zu sehen, dass sie ein Schwert in der emporgereckten Hand hält. 

Im Herbst erscheinen Highsmiths Tagebücher im Diogenes-Verlag


In diesem Herbst wird der Diogenes-Verlag ihre Tagebücher veröffentlichen: Die 56 Notizbücher, insgesamt rund 8000 Seiten, wurden nach Patricia Highsmiths Tod 1995 von ihrer Lektorin Anna von Planta und dem damaligen Diogenes Verleger Daniel Keel hinter Bettwäsche und Handtüchern versteckt in ihrem Haus im Tessin gefunden. Highsmith hatte Daniel Keel zu ihrem Nachlassverwalter und Testamentsvollstrecker bestimmt.