Essen. Friedrich Harkort hat die industrielle Entwicklung des Ruhrgebiets stark beeinflusst. Er war seiner Zeit weit voraus - und sorgte dafür, dass andere von seinen Ideen profitieren. Harkort ist einer der "Köpfe der Ruhr" - die in einem neuen Buch des Klartext-Verlags vorgestellt werden.

Einer der ersten industriellen Pioniere des Ruhrgebiets und Preußens ist zweifellos Friedrich Harkort, dessen Persönlichkeit in besonders akzentuierter Weise den frühen Bourgeois und Citoyen darstellt – wohl mehr als Vorbild denn als durchschnittlicher Repräsentant. Harkort ist seiner Zeit voraus, mahnt viele Maßnahmen an und setzt Einrichtungen durch, die für die industrielle Entwicklung des Ruhrgebiets entscheidend sind.

Familienbesitz

Zwischen Hagen und Gevelsberg liegt am Ufer der Ennepe das Gut Harkorten. Die Harkorts sind seit dem 16. Jahrhundert nachweisbar im Besitz dieses Freiguts. Landwirtschaft, Wald, einige Hammerwerke, in denen Sensen, Messer, Draht und andere Eisenwaren hergestellt werden, sowie der Vertrieb dieser Produkte begründen den Wohlstand der Familie.

Friedrich Harkort wird als viertes von sieben Kindern der protestantischen Eheleute Johann Kaspers IV. und seiner Frau Henriette 1793 geboren, die das Kindesalter überleben. Nach dem Besuch der Hagener Handelsschule absolviert Friedrich eine Lehre in einem Teppichgeschäft; er heiratet die Tochter des Lehrherrn. Friedrich nimmt 1813 und 1814 an den Befreiungskriegen teil und wird als Hauptmann der Landwehr mit dem Eisernen Kreuz ausgezeichnet – dieser Kriegsruhm und das soldatische Element begleiten ihn sein ganzes Leben (Heuss 1957: 2; Meister 1931: 38 f.).

Karriere als Industrieller

Als der Vater 1818 stirbt, erhält der älteste Sohn den Stammsitz. Friedrich gründet mit Hilfe seiner Abfindung bei Hagen eine Gerberei für feine Lederwaren und bei Langenberg einen Kupferhammer. Nach wenigen Monaten schon gibt er diese beiden Werke an Verwandte ab und gründet mit dem Finanzier Heinrich Kamp die Maschinenfabrik Harkort & Co. in der Burg Wetter an der Ruhr. In bunter Folge werden unzählige Gerätschaften hergestellt – vom Treppengeländer über Zahnräder bis zu Bügeleisen.

Auf einer Reise nach England lernt Harkort die großen Fortschritte im Eisenfrischverfahren, im so genannten Puddeln, kennen. Trotz schwierigster Umstände holt Harkort Verfahren und Arbeiter – z. T. verurteilte Straftäter vom Galgen herab – aus England und errichtet 1826 in Wetter ein Puddel- und Walzwerk. Er produziert Kugelöfen, Räder, Heizapparate, Sägen und vor allem die ersten tauglichen Dampfmaschinen mit 100 PS in Preußen. Schon 1822 nennt die Staatszeitung die Werkstätte eine der „merkwürdigsten und bewundernswertesten Anstalten Deutschlands“ (Meister 1931: 39 f.).

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Wohlhabend wird er damit nicht. Denn er weigert sich, seine Erfindungen und Verbesserungen geheim zu halten. Im Gegenteil, er regt andere an, es ihm gleichzutun, und hilft, wo er nur kann. Er experimentiert und sucht neue Wege; auf Geschäfte, Rentabilität und Gewinne ist er nicht aus. 1832 scheidet er aus der Werkstätte aus, dem Teilhaber ist zu viel experimentiert und zu wenig verdient worden. Trotz Schulden gründet er mit neu aufgenommenem Geld bald ein neues Unternehmen.

Am 30. März 1825 veröffentlicht Harkort in der Zeitung „Hermann“ einen Aufsehen erregenden Artikel: „Eisenbahnen (Railroads)“. Dieser Aufsatz ist in Deutschland der erste in einem öffentlichen Organ publizierte Artikel, der sich mit dieser Thematik beschäftigt. Von Anfang an erkennt Harkort die enorme Bedeutung der Eisenbahn für Verkehr und Handel. Er prognostiziert eine Revolution des Handels und eine Aufwärtsbewegung des rheinisch-westfälischen Gewerbes: „Man verbinde Elberfeld, Köln und Duisburg mit Bremen oder Emden, und Hollands Zölle sind nicht mehr.“ Über 20 Jahre sieht man Harkort nun mit technischen Verfahren, Anträgen und Artikeln für die Eisenbahn kämpfen. Harkort lässt in seiner Werkstätte eine kleine Bahn nachbauen und 1826 in Elberfeld Probe fahren. 1830 beschließt der Westfälische Landtag auf Harkorts Antrag den Bau der Bahn von Minden nach Lippstadt. 1833 veröffentlicht Harkort seine Schrift „Die Eisenbahn von Minden nach Köln“.

Kampf gegen die Bürokratie

Die Autoren und ihr Buch

Der Band "Köpfe der Ruhr" stellt die Entwicklung und den Alltag des Ruhrgebiets anhand von 50 Biografien dar. Sie wurden in aufeinander folgenden Generationen nach Schichtzugehörigkeit und Beruf ausgewählt. 200 Jahre Industriegeschichte und Strukturwandel werden rekonstruiert, in denen die Akteure als Eigentümer und Manager, Erfinder und Funktionäre, Unternehmer und Arbeitnehmer in Institutionen und Gesellschaftsstrukturen auftreten.

Georg W. Oesterdiekhoff ist Sozialwissenschaftler. Seine Lehr- und Forschungsschwerpunkte sind die Soziologische Theorie und der soziale Wandel. Oesterdiekhoff hat bereits 21 Bücher und 180 Artikel veröffentlicht.

Hermann Strasser war 1977 bis 2007 Inhaber des Lehrstuhls für Soziologie an der Universität Duisburg-Essen. Seine Lehr- und Forschungsschwerpunkte sind die Soziologische Theorie, die soziale Ungleichheit und der soziale Wandel (Klassenstruktur, Arbeitslosigkeit, Drogenkonsum, Kultur, soziales Kapital). Strasser ist Inhaber eines Instituts für professionelle Texte in Ratingen und regelmäßiger Kolumnist in führenden Tageszeitungen.Er veröffentlichte mehr als 200 Aufsätze und 30 Bücher.

Harkort kämpft gegen die preußische Bürokratie und schreibt am 30. März 1835: „Heute sind es zehn Jahre geworden, als ich im ‚Hermann’ zum ersten Male über Eisenbahnen schrieb. Großes hätte man in Preußen erreichen, alles mit einem Schlage voranbringen können, wenn die Sache damals energisch angegriffen worden wäre! Stattdessen ist nichts geschehen; wir haben noch nicht eine Meile Bahn, und unsere Nachbarn, das junge Belgien vorauf, schöpfen das Fett von der Suppe. Pfui über unsere unüberwindliche Schlafmützigkeit.“ Erst 1847 wird die Köln-Mindener Bahn in Betrieb genommen (Meister 1931: 44 ff.), die das Ruhrgebiet revolutioniert. Unternehmen wie Krupp in Essen, aber auch Borsig in Berlin werden mit der Eisenbahn groß.

Nach der Trennung von Kamp 1832 kauft er in Dortmund eine Ölmühle und wandelt sie in eine Eisengießerei und Kesselschmiede um. Er baut Schiffsdampfmaschinen. Seine Maschinen treiben den Weserdampfer „Friedrich Wilhelm III.“ an, den er im Januar 1836 von Duisburg selbst über den Rhein, die Issel, das Wattenmeer und die Weser nach Minden führt. Die Entwicklung weiterer Schiffstypen – u.a. das erste Rheinseeschiff – treiben ihn allerdings in den völligen Ruin, nicht ohne von seinen Geschäftsfreunden gehörig ausgenutzt zu werden (Meister 1931: 47). „Der Mann hat noch mancherlei angefangen, und manches ist ihm noch mißglückt,“ schreibt Theodor Heuss (1957: 5) in seinem Harkort-Porträt. Erst im Alter kommt er durch den Verkauf einiger Bergwerksanteile und Mutungsrechte – nicht durch seine unternehmerischen Aktivitäten – zu einigen sorgenfreien Jahren und zu leidlichem Wohlstand. Harkort wohnt in einem bescheidenen Arbeiterhäuschen.

Auf der Suche nach Neuem

Die Annahme, dass es eher weniger sein Mangel an unternehmerischen Fähigkeiten ist, sondern seine sture Haltung, die ihn nicht zum erfolgreichen Industriellen werden lassen, liegt nahe. Denn seine industrielle Innovationstätigkeit ist nur ein Teil seiner politischen und schriftstellerischen Arbeit. Er will neue Dinge und Verfahren entwickeln und ausprobieren, Beispiel geben und andere Leute anregen: „Mich hat die Natur zum Anregen geschaffen, nicht zum Ausbeuten, das muß ich anderen überlassen.“ Daher gibt es für ihn kein Fabrikationsgeheimnis und keine Angst vor Konkurrenz.

Als deutscher Bürger des 19. Jahrhunderts ist er Nationalist; England soll nicht produzieren und verkaufen, was auch in Deutschland möglich ist. Gleichwohl ist nicht auszuschließen, dass sein Idealismus auch ein Stück weit in ökonomischer Weltfremdheit begründet ist. Insbesondere im Vergleich zu den späteren captains of industry und ihren Macherfähigkeiten hat Harkort noch den Geruch des Verspielten und Verträumten, wie auch Heuss (1957: 2) hervorhebt: „Er hat das alles erlebt, Schulden, Nöte, Zwangsversteigerungen, Prozesse, und es könnte einer sagen, da sei er wohl eigentlich ein schlechter Wirtschafter gewesen. Soviel mag gewiß sein: Dem unbrechbaren Unternehmungssinn fehlte jener kaufmännische Instinkt, der in der Kalkulation vorsichtig, zur Kühnheit des Wollens den Realismus des Maßgefühls setzt.“

Aufklärer und Nationalist

An der Vorbildlichkeit, dem Idealismus und der hohen Ethik seines Charakters gibt es kaum Zweifel, wie seine sozialpolitischen, aufklärerischen und schriftstellerischen Aktivitäten bezeugen. In seinen „Bemerkungen über die Hindernisse der Zivilisation und Emanzipation der unteren Klassen“ von 1843/44 stellt er fest, dass die Arbeiterklasse bisher am Zugang zu den Fortschritten des Menschengeschlechts geringen Anteil habe. So fordert er eine Verringerung der Arbeitszeiten, ein Verbot der Kinderarbeit, bessere materielle Versorgung und soziale Abstützung der Arbeiter (Meister 1931: 50 f.). Jahrzehntelang setzt sich daher Harkort für eine Verbesserung der Volksschulbildung ein, die er als Grundlage des gesellschaftlichen Fortschritts ansieht. Die deutschen Lehrer hatten keinen besseren Advokaten als Harkort.

Er ist aber auch ein Nationalist und verlangt das Ende der Kleinstaaterei, eine aktive deutsche Kolonialpolitik und eine deutsche Kriegsflotte – 50 Jahre vor der praktischen Umsetzung seiner Vorschläge. Politisch ist er Alt-Liberaler, zeitweilig steht er dem Zentrum nahe, ist Gegner des Kommunismus ebenso wie feudaler Vorrechte und des Großgrundbesitzes. Schon 1818 fordert er eine Verfassung mit Volksvertretung. Seine unermüdliche Aktivität als Abgeordneter und Schriftsteller machen ihn zu einem begehrten und geachteten Ratgeber. Er wird nicht zuletzt deshalb nicht preußischer Handelsminister unter Bismarck, weil er unabhängig bleiben will.

Ehrbarer Kaufmann

Harkort steht die Ehrlichkeit im wahrsten Sinne des Wortes auf die Stirn geschrieben: Trotz seiner Pleiten kann „sein geschäftliches Handeln ... als Maßstab dafür gelten, was unter einem ehrbaren Kaufmann zu allen Zeiten zu verstehen ist. Sein Wort galt als uneingeschränkte Zusage“ (Pudor 1957: 10). Auch Heuss (1957: 7) hat in ihm den Prototypen des Zivilgesellschafters gesehen: „Denn die völlig selbstlose und dabei ganz uneitle Hingabe an die Sorgen der Gemeinschaft war ja die innere Kraft seines Lebens. Er stellt, wenn man eine zuordnende Begrifflichkeit braucht, die vollkommenste Prägung dessen dar, was man unter deutschem Bürgersinn und Bürgertum des 19. Jahrhunderts verstehen mag.“

Versucht man eine resümierende Einschätzung von Friedrich Harkort, dann kann man im Hinblick auf die Entwicklung des Ruhrgebiets feststellen, dass er an der Entwicklung der Dampfmaschine, der Eisenbahnen und der Schifffahrt als einer der ersten Pioniere beteiligt gewesen ist. Dampfmaschinen sind technische Vorbedingung des Zechentiefbaus und Eisenbahnen die technische Voraussetzung des Kohlentransports, insbesondere in der Emscher-Region – beide von Harkort angeregten Entwicklungen begründen den Aufstieg des Reviers.

Kein Profitstreben

An Harkort fällt weiters auf, dass seine Unternehmertätigkeit Teil seiner umfassenderen aufklärerischen, fortschrittsgesinnten Lebensauffassung ist. Er will der „Zivilisation“ auf die Sprünge helfen. Seine Unternehmertätigkeit soll auf ökonomischem Gebiet das voranbringen, worauf seine Bemühungen auf sozialem und politischem Gebiet zielen: der Menschheit im Allgemeinen und dem deutschen Volk im Besonderen die Zivilisation nahe bringen.

Sein Scheitern als Unternehmer und sein Erfolg als Innovator, Vordenker und Volkserzieher widerlegen die universelle Geltung des mikroökonomischen Unternehmermodells: Sein unternehmerisches Handeln ist nicht durch das eigensüchtige Profitstreben des homo oeconomicus bestimmt, sondern durch Motive, von denen Harkort glaubt, dass die Gesellschaft sie von ihm, dem Umstände und privilegierte Herkunft deren Realisierung ermöglichen, erwartet. Idealismus, Patriotismus und innovatorische Neugier, nicht Gewinnstreben, bestimmen sein Handeln. Er ist deshalb und nur insofern Bourgeois, weil er citoyen ist. Dies unterscheidet ihn von den rastlosen ökonomischen Übermenschen, die in der Phase des Hochkapitalismus das Feld beherrschen.

Umgebung für Idealismus

Die Industriekapitäne nach 1870 sind Menschen, deren Denken und Handeln ausschließlich ökonomisch bestimmt zu sein scheint, und zwar im Sinne der Expansion ihrer Unternehmen. Der Dilettantismus und Idealismus des Fritz Harkort im Vergleich zu den späteren Tycoons ist wohl auch durch seine Umgebung bedingt. Die Morgenröte des Industriekapitalismus gestattet Idealisten wie Harkort in einer konkurrenzarmen und kapitalschwachen Umgebung zu existieren und zu experimentieren, während in der Phase des Hochkapitalismus der Unternehmer dem Rentabilitätsdiktat viel unmittelbarer unterworfen ist, will er reüssieren.