Essen. „Hörde mon Amour“: Judith Kuckart, Dortmunds Stadtschreiberin, spürt in ihrem Film neuen Heimatfragen und ganz persönlichen Erinnerungen nach.

„Hörde war für mich wie eine Sonne“: Das ist natürlich ein irrer erster Satz, ein Geschenk. Das in diesem Fall von der 61-Jährigen Marlene Paul stammt, die in den 70er Jahren aus Jamaika nach Dortmund kam. „In Dortmund war es sehr dunkel. Aber wenn Hoesch dieses Licht angeschaltet hat, das sah aus wie Sonnenuntergang. Dieses Licht war für mich Wärme. Da hatte ich keine Angst mehr.“ Sagt Marlene, in diesem typischen Ruhrpott-Zungenschlag, und während wir ihre Stimme hören, sehen wir in ihr ins Gesicht, lauschen mit ihr zusammen ihrer eigenen Stimme, müssen mit ihr schmunzeln – das Bild zeigt nicht die Sprechende, sondern eine Zuhörende, einer der vielen Kunstgriffe dieses Films.

Man hätte Marlene Paul, wäre Corona nicht gewesen, sicher live sehen können: Das Projekt der Dortmunder Stadtschreiberin Judith Kuckart war als Erzähltheater konzipiert. Nun aber ist es ein Film geworden, der kunstvoll mit Texten, Tönen, Bildern spielt – ein Stadtporträt als Collage. Während die Kamera (Martin Rottenkolber) in Vogelperspektive über die Stahlarbeitersiedlung gleitet, über die Industriebrache, hören wir von Hördes Geschichte: von der Stadtwerdung 1340 bis zur Eingemeindung nach Dortmund 1928, vom ersten Hochofen über den Bau der Hörder Badeanstalt 1934 (gespeist mit dem Wasser, das die Hochofenschlacke kühlte) bis hin zum Phoenixsee. Es spricht ein ehemaliger Pfarrer, ein Richter, eine VHS-Lehrerin für Sprachen. Es sprechen eine Buchhändlerin und ihr aus Frankreich stammender Ehemann; aus diesem Dialog stammt der Titel des Films: „Hörde mon Amour“.

Vier, fünf Sommer ihrer Kindheit hat Judith Kuckart in Hörde verbracht

Die eigentliche Faszination dieser Erzählung aber ist ihr radikal subjektiver Blick: Vier, fünf Sommer ihrer Kindheit hat Judith Kuckart in Hörde verbracht, dramatischen Entwicklungen in ihrer Familie geschuldet: Weil Tante Gerda auf der Bank eines Spielplatzes zusammensackte, tot mit Mitte 20, ihren Neffen auf dem Arm. Weil sie einen Mann zurückließ und vor allem einen kleinen Sohn, dass Judith Kuckarts Großmutter aus Schwerte zur Hilfe eilte – und die Enkelin mitnahm. Hörde also: „Da war man nach dem Abendessen gleich müde und nach dem Baden nie sauber. Die Zimmer waren klein wie Fischdosen.“

Marlene Paul im Film „Hörde Mon Amour“. 
Marlene Paul im Film „Hörde Mon Amour“.  © Judith Kuckart | Judith Kuckart

Die Straße hieß Winterberg, und „vom Winterberg aus ging man in Badelatschen zum Schallacker. Nahm man den Bus, hatte man eine Kugel Eis weniger“. Das Freibad am Schallacker: „Unendlich träge Sommernachmittage, in denen alles, was die Menschen sonst zu Hause taten, auf einem Badetuch stattfand: Kreuzworträtsel, Kinder machen, Kinder wickeln, streiten, Pickel ausdrücken, hartgekochte Eier essen.“ Das Bad wurde in den 90er Jahren geschlossen; auf dem Schallacker betreiben sie jetzt Urban Gardening, die Kamera fährt über Beete, Töpfe, Plastikstühle. Gerdas Witwer wird erneut heiraten, nämlich Tante Anneliese. Ihre Tochter, „Brillenbarbie“ gerufen, wird Judith Kuckarts Freundin. Der Junge, den Gerda sterbend im Arm hielt, ist heute 57 Jahre alt und Richter, im Film hält er alte Fotos in die Kamera: „Ich bin der Sohn von Irmel. Ich bin das Baby, das Tante Gerda im Arm hielt, als sie starb. Mein Großvater wurde in der Ukraine geboren und arbeitete im Stahlwerk. Als sie damals in die Siedlung zogen, war sie noch ganz neu.“

Was ist Heimat? „Erzählen ist Heimat“, heißt es einmal, aber auch Freunde, Familie, die Arbeit können Heimat sein. Dieser Film gibt viele Antworten, die vielleicht altmodischste und zugleich berührendste ist: „Wenn man sagen kann, diese Frau dort, die hat als Mädchen eine Zahnspange getragen.“

„Hörde mon Amour“ ist ab 24. Dezember zu sehen: www.literaturhaus-dortmund.de.