Kafka hat 1923 einem Mädchen in Berlin über den Verlust seiner Puppe hinweg geholfen. Mit lBriefen, die nie gefunden, aber jetzt erfunden wurden
Zugegeben, die Faktenlage könnte deutlich tragfähiger sein, aber die Geschichte ist einfach zu schön und rührend, um sie nicht zu erzählen. Franz Kafka, der große, böhmische Erzähler ist ja so ziemlich das absolute Gegenteil eines Gute-Laune-Autors und Märchenonkels – auch, wenn sich mancher seiner Akteure frühmorgens beim Aufwachen schon mal in einen Käfer verwandelt fühlt.
Jener Franz Kafka mit seinen düsteren Phantasien, mit seinen rätselhaften Kurzgeschichten, Parabeln und Romanfragmenten, soll ein Jahr vor seinem frühen Tod im Jahre 1923 ein junges Mädchen im Berliner Stadtpark Steglitz über den Verlust seiner Puppe hinweggetröstet haben. Diese Geschichte entfaltet Juliane Sophie Kayser in ihrem Kinderbuch „Franz und die Puppe auf Reisen“ – denn genau das ist die Lösung, die dem Schriftsteller für das weinende Mädchen im Stadtpark einfällt.
Im Buch heißt das Mädchen Lilli und die Puppe Pauline – Kafka vertröstet Lilli zunächst auf den Folgetag, als Pauline dann aber immer noch nicht gefunden ist, überreicht der später weltberühmte Schriftsteller dem Mädchen einen Brief, in dem die Puppe Pauline erklärt, sie sei auf Reisen gegangen.
Man ahnt was kommt: Paulines Reise dauert sehr lange und Kafka, offenbar im Zweifel ein Schnellschreiber, liefert immer noch Berichte aus dem bewegten Reiseleben der Puppe. Ob es diese „Puppenbriefe“ Kafkas gegeben hat, ist zumindest nicht nachzuweisen.
Sollte Kafka Duplikate der Puppenbriefe gefertigt haben, so könnten sie sich unter den Texten befunden haben, die die Geheime Staatspolizei des Nazi-Regimes 1933 in der Wohnung von Kafkas damaliger jüdischer Lebenspartnerin mit dem sehr kinderbuchtauglichen Namen Dora Diamant beschlagnahmte. Diese Dokumente wurden vernichtet oder sind verloren gegangen.
„Eine wirkliche Arbeit, so wesentlich wie die anderen“
Dora Diamant indes berichtet, wie sie beide beim Spaziergang das Mädchen im Matrosenanzug trafen und dass Kafka die Aufgabe, fiktive Briefe einer Puppe zu schreiben, sehr ernst nahm. Sie schreibt: „Er war in demselben gespannten Zustand, in dem er sich immer befand, sobald er an seinem Schreibtisch saß, ob er nun einen Brief oder eine Postkarte schrieb. Es war übrigens eine wirkliche Arbeit, die ebenso wesentlich war wie die anderen, weil das Kind um jeden Preis vor der Enttäuschung bewahrt und wirklich zufriedengestellt werden mußte. Die Lüge mußte also durch die Wahrheit der Fiktion in Wahrheit verwandelt werden.“
So berichtete sie nach dem Krieg in London von den Ereignissen – das war bereits im Jahre 1948. Das Interesse der Literaturforschung indes war gering an Dora Diamant, die 1952 starb. Lediglich in zwei Interviews für Literaturzeitschriften wurde das Thema mit ihr kurz erwähnt. Die Recherche einer Stadtteilzeitung in Steglitz nach der Empfängerin der Puppenbriefe im Jahre 1959 blieb ohne Erfolg.
Und das Forscherinteresse an den Erlebnissen von Kafkas Lebenspartnerin der letzten Jahre blieb lange Zeit gering. Zuletzt recherchierte im Jahre 2001 der irisch-amerikanische Kafka-Übersetzer Mark Harman den Briefen hinterher – vergeblich.
Vielleicht ist es auch ganz gut so, denn so können Autoren in aller Welt ihre Phantasie spielen lassen, wie sich die Geschichte entwickelt hat und was denn wohl in den Briefen gestanden haben mag. Die Episode mit der Puppe findet sich sowohl in biografischen Notizen, die der Wuppertaler Kafka-Forscher Hans-Gerd Koch 1995 in seinem Buch „Als Kafka mir entgegenkam“ zusammentrug und aus dem auch das Zitat von Dora Diamant stammt. 2008 schrieb Gerd Schneider den Roman „Kafkas Puppe“, der eher auf ein jugendliches Publikum zielte und der Schweizer Autor Jürg Amann behauptete 2011 mit schriftstellerischer Freiheit, er habe „Die Briefe der Puppe“ gefunden.
Echte Zitate, fiktive Briefe und lebensnahe Illustrationen
Nun also gibt es endlich auch ein Buch, das die Geschichte für Kinder im fortgeschrittenen Puppenalter erzählt – also kurz vor Schulantritt. Die US-Amerikanerin Juliane Sophie Kayser baut echte Kafka-Zitate in die fiktiven Briefe von Puppe Pauline ein und auch ein Echo der Lebensgeschichte Kafkas, der wegen seines geschwächten Gesundheitszustandes nur ein gutes halbes Jahr in Steglitz lebte, ehe er – vergeblich – zur Kur ins heutige Tschechien aufbrach.
Puppenmutter Lilli, zugegeben, ein wenig glaubhafter Name für eine Berliner Göre der Weimarer Republik, tröstet sich mit dem Gedanken, dass ihre Puppe in der Ferne eine neue Familie gegründet hat und macht nach drei Wochen mit fast täglichen Nachrichten ihren Frieden mit dem Verlust und freut sich auf die Schule.
Deswegen liegen dem vom renommierten Illustrator Graham Rust sehr naturalistisch und leicht naiv bebilderten Buch zwei Urkunden zum Schulstart und zum Lesenlernen bei. Und ein Warnhinweis an die Mädchen von heute, dass sie sich bitte nicht im Park von fremden Herren Märchen erzählen lassen sollen. Eine Pointe, fast so schwarz wie von Kafka selbst.
Juliane Sophie Kayser: Franz und die Puppe auf Reisen – Lilli und der Mann im Mond. 64 Seiten, viele farbige Illustrationen von Graham Rust, Tomorrow’s Classics, 17,99 Euro