Essen. Was die Corona-Pandemie mit uns macht, besingen AnnenMayKantereit auf dem Album „12“: Sänger Henning May im Gespräch über Angst und Hoffnung.

Sie wollten in diesem Jahr in St. Petersburg, Istanbul und auf der Hamburger Trabrennbahn spielen, doch nach dem Konzert in Chemnitz am 7. März war Schicht. Corona. Und nun? Die Kölner Schulfreunde und Endzwanziger Christopher Annen, Henning May und Severin Kantereit , vor vier Jahren mit ihren hochsensiblen Songs wie „Oft gefragt“ oder „Pocahontas“ groß rausgekommen, standen kurz unter Schock, dann taten sie, was Künstler eben tun, wenn sie sich einen Reim auf die Welt machen wollen: Das Album, das aus der Not entstanden ist, heißt „12“ und hört sich noch direkter, distanzloser, intimer und ungefilterter an, als man es ohnehin von den drei Jungs gewohnt ist. Ein, zwei Uptempo-Songs, der Rest auf „12“ ist minimalistische Melancholie. Steffen Rüth unterhielt sich über das Überraschungs-Album mit Sänger Henning May .

Herr May, Sie haben das Album buchstäblich über Nacht veröffentlicht, genauer gesagt am 17. November um Mitternacht. Sowas macht sonst nur Taylor Swift.

Henning May (lacht): Oh, ich liebe Taylor Swift. Wir wollten dieses Album einfach so schnell wie möglich veröffentlichen. „12“ ist eine Platte für jetzt gerade. Wir haben die Songs jetzt geschrieben, und sie sollten auch jetzt rauskommen. Zumindest erstmal digital, auf Vinyl und CD dauert es noch ein paar Tage.

„Die Probleme, auch Corona, sind so nah, so unmittelbar.“

Warum der Titel „12“?

Weil es punkt 12 ist. Nicht fünf vor 12, auch nicht zwei vor 12, nein: Es ist „12“. So viele Themen lassen uns keine Zeit mehr. Es gibt nichts mehr zu diskutieren über den Klimawandel oder den Umgang mit Rechtsradikalismus in der Gesellschaft. Die Probleme, auch Corona, sind so nah, so unmittelbar, sie betreffen uns hier und in dieser Sekunde.

Das Album ist unheimlich eindringlich. Aber gute Laune macht „12“ nicht.

Nein, das ist wahr. Dazu muss ich sagen, dass wir auch keine gute Laune hatten, als die meisten dieser Lieder entstanden sind. Wir wollten unsere sehr düstere, zweifelnde und traurige Stimmung einfangen, unter der wir speziell im März und April litten, als wir mit dem Schreiben anfingen. Das ist eben kein „Wir schaffen das“-Motivationsalbum. Ich bin weit davon entfernt, meiner eigenen Männlichkeit zu erliegen und zu sagen „Hey, ist doch alles kein Drama“. Wir wollten ehrlich spiegeln, was um uns herum passierte. Deshalb singe ich Zeilen wie „So wie es war, wird es nie wieder sein“.

Denken Sie denn wirklich, dass auf Dauer alles anders wird?

Ende März entsprach der Satz definitiv meiner persönlichen Perspektive. Unsere Tour war abgesagt, unsere gesamte Branche wurde lahmgelegt, wir bekamen sehr unmittelbar am eigenen Leib zu spüren, was Machtlosigkeit bedeutet. Zu der Zeit konnte mir niemand sagen, ob wir jetzt in einem, in zwei oder erst in fünf oder zehn Jahren wieder so auf Tour gehen können, wie wir das gewohnt sind – also mit Nähe und ohne Masken. Mich hat die ganze Situation krass geschockt, und ich habe mir Mühe gegeben zu akzeptieren, dass man mir den Boden unter den Füßen weggerissen hat. Ich bin jetzt 28 Jahre alt. Weiß ich, ob mich mit 34 noch jemand hören will?

„Das war einfach krass, sich nicht verabschieden zu können.“

Wie kommen Sie normalerweise mit Veränderungen zurecht?

Ich finde die erstmal gut, ich bin ein großer Freund von Umwälzungen. Ich glaube, nach dieser Zeit wird einiges anders sein. Wir werden anders reisen, anders Schule haben, anders studieren, anders arbeiten. Insgesamt wird unser Leben noch digitaler werden. Aber ich möchte trotz allem die Hoffnung nicht verlieren, dass sich in naher Zukunft wieder 50.000 Leute zu unserer Musik in den Armen liegen werden.

Wie intensiv haben Sie sich mit dem ganzen Corona-Thema auseinandergesetzt?

So intensiv, dass ich ständig meinen Neurowissenschaftlerkumpel anrufe und ihn nach jedem Detail frage. Ich bin ein Corona-Nerd, ich will das alles verstehen, gerade die wissenschaftliche Seite. Ich lese Magazine wie „Science“ und „Nature“, ich informiere mich gegen die Ohnmacht an. Dazu kommt: Ein älterer Mensch aus meiner Familie war im Krankenhaus, und außer der Sterbebegleitung durfte niemand diese Person besuchen. Das war einfach krass, sich nicht verabschieden zu können. Das ist ein Gefühl, das ich schon kenne, und vor dem ich Angst habe. Die sehr vielen ernsten Erfahrungen und Emotionen haben dazu beigetragen, dass ich so nerdig an das Thema rangehe.

Was macht Ihnen am meisten Angst an der Situation?

Alles. Ich bin ganz sicher kein Corona-Leugner. Trotzdem glaube ich, dass man vorsichtig sein muss, wenn es darum geht, die Grundrechte einzuschränken. Noch nie zuvor in meinem Leben habe ich mich den Entscheidungen der Politik so ausgeliefert gefühlt. Angela Merkel hat mich in der Hand, und ich hoffe sehr, dass sie kluge Entscheidungen trifft. Ich befürchte aber, dass sich auch hierzulande die Fronten immer mehr verhärten und die Lage aufeinanderprallen. Wir werden gerade ein bisschen so wie USA.

„Ich habe erst jetzt gemerkt, wie ungesund ich durchs Leben gerast bin.“

Hat Ihnen das Songschreiben geholfen, mit all dem umzugehen?

Total. Im Intro des Albums hörst du die ersten Töne, die ich nach unserer Tour-Absage am Klavier gespielt habe. Wir haben diese Lieder so schnell wie möglich geschrieben, wir wollten die Verzweiflung und die Ehrlichkeit nicht verstecken, die Angst zugeben. Dass daraus ein ganzes Album entsteht, war zunächst gar nicht klar, kristallisierte sich dann aber schnell raus. Manche dieser Lieder stehen für sich genommen etwas einsam da. Sie brauchen die anderen, um verstanden zu werden.

Was nehmen Sie an Positivem mit aus diesem 2020?

Ich habe persönlich mehr aus meinen Fehlern gelernt als je in meinem Leben zuvor. Es war sehr wertvoll für mich, dass das Hamsterrad plötzlich stillstand. Ich war so richtig rausgebombt aus dem normalen Leben, das hat mir gutgetan. Ich habe erst jetzt gemerkt, wie ungesund ich durchs Leben gerast bin.

Woran haben Sie das festgestellt?

Ich kann endlich wieder richtig schlafen. Meine Augenringe sind weg. Auf Tour schläfst du im Bus, es ruckelt die ganze Zeit, du hast Rückenschmerzen und fühlst dich nie richtig fit. Jetzt habe ich viel mehr Zeit für Sport, jogge die fünf Kilometer wieder schneller, bin einfach gesünder. Seit März habe ich außerdem fast gar keinen Alkohol mehr getrunken.

„Alleine abends beim Seriengucken trinke ich halt kein Bier, sondern lieber eine Limo.“

So als Selbstversuch?

Nö, eher deshalb, wie ich praktisch nur in Gesellschaft trinke, und die ganze Zeit nur wenig Gesellschaft hatte. Alleine abends beim Seriengucken trinke ich halt kein Bier, sondern lieber eine Limo. Ich bin einfach sehr viel alleine gewesen und einfach nicht der Typ, der sich dann jeden Abend eine Flasche Weißwein reinzieht.

Du bist vor zwei Jahren von Köln nach Berlin gezogen. Wie sehr vermissen Sie Ihre Heimatstadt?

Um mich mit Severin und Christopher auszutauschen, bin ich immer noch viel in Köln. Ich merke in Berlin, dass ich den Kölschen Dialekt, diesen Singsang in der Stimme, doch ein bisschen vermisse. Aber in Köln ist mein Gesicht bekannter, ich schätze an Berlin, dass ich oft unbeobachteter und freier rumlaufen kann.

Eines der Lieder hat den schönen Titel „Gegenwartsbewältigung“.

Ich liebe das Wort! Ich habe Freunde aus der Psychologie, irgendwann fiel dieser Begriff, als wir uns über Bewältigungsstrategien unterhielten. Da steckt alles drin – die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft.

„Bei aller Ungewissheit dürfen wir nicht vergessen, dass wir noch leben.“

Haben Sie sich beim Schreiben intensiv mit der Vergangenheit beschäftigt?

Ja, auf jeden Fall. Ich hatte zum ersten Mal wirklich Zeit, gerade die letzten zehn Jahre mit der Band einzuordnen. Es ging ja alles immer so schnell, und ich sagen ja auch auf dem Album, ich fühle mich, als wäre ich gestern erst 17 gewesen.

Das letzte Wort auf „12“ ist „Weltuntergang“. Was gibt Zuversicht?

Die Liebe, die ich in meinem Leben bekommen habe und immer noch bekomme. Die guten Kräfte in der Gesellschaft, die Entwicklungen wie „Black Lives Matter“ oder „Fridays for Future“ ermöglichen. Dass sich überall tolle Menschen zusammenfinden und ihre Stimmen erheben. Ich denke, bei aller Ungewissheit und bei aller Vorsicht dürfen wir nicht vergessen, dass wir noch leben. Und dass dieses Leben auch schön sein kann.