Amazon nimmt für Technik viel Geld in die Hand. Wie kann der deutsche Buchhandel mithalten? Thalia-Geschäftsführer Ingo Kretzschmar im Gespräch.
Hagen. In Corona-Zeiten wird die gute alte Buchhandlung zum Zufluchtsort. Doch kann sie sich das überhaupt leisten? Der Hagener Ingo Kretzschmar ist bei Thalia zuständig für das stationäre Geschäft, also für alle rund 350 Filialen in Deutschland und Österreich. Im Interview mit unserer Redaktion verrät der 41-Jährige, warum das Weihnachtsgeschäft 2020 so wichtig ist und welche Bücher sich derzeit besonders gut verkaufen.
Frage: 2018 haben Sie die Hagener Thalia-Buchhandlung zum Piloten für ein neues stationäres Konzept umgestaltet. Wie sind Ihre Erfahrungen?
Ingo Kretzschmar: Sortimenterisch hat sich vor allem die deutliche Ausweitung der Kinderbuch- und Spielwarenabteilung bewährt. Es war der Wunsch vieler Kundinnen und Kunden, dass wir unser Buchsortiment und hochwertige Spielwaren miteinander verbinden, gepaart mit guter Beratung. Die Nachfrage im Kinder- und Jugendbuch ist groß. Vielen Eltern ist es wichtig, dass die Kinder wieder lesen. Und der Trend geht genau dorthin - die Kinder lesen wieder selber. Zudem wollen wir auch kleinere Verlage und qualitativ hochwertige Bücher präsentieren. Wir haben in Hagen durchaus anspruchsvolle Kundengruppen, die das schätzen.
Laden-Architektur im Fokus
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Die Laden-Architektur stand ebenfalls im Fokus.
Die verbesserte Aufenthaltsqualität der Buchhandlung kommt gut an. Im Café ist schon morgens viel Frequenz, die Leute kommen zum Zeitungslesen oder um sich mit Freunden zu treffen. Bezüglich der Innenarchitektur sind die Meinungen geteilt. Viele Kunden mögen die einladende Atmosphäre, anderen wiederum ist die Kombination von hellen Regalen und hellem Holz in Hagen zu kühl und zu designig. Daher lassen wir parallel in einigen Buchhandlungen derzeit einen Versuch mit schwarzen Regalen und hellem Holz laufen, das wirkt konservativer.
Warum ist Weihnachten so wichtig für Sie?
Wir sind auf das Weihnachtsgeschäft angewiesen, vor allem nach dem Lockdown im Frühjahr. Aber ich sage ehrlich: Ich kann nicht absehen, wie das Geschäft wird. Die Kunden sind verunsichert. Die großen Innenstadtfilialen leiden unter dem Frequenzrückgang und der Besucherbegrenzung. Jetzt, da die Gastronomie geschlossen ist, geht die Frequenz in den Innenstädten noch einmal zurück. Für ein richtig gutes Weihnachtsgeschäft brauchen wir rappelvolle Innenstädte, und die werden wir dieses Jahr nicht haben. Deshalb ist es umso wichtiger, dass wir mit digitalen Services für ein sicheres Einkaufserlebnis sorgen können.
Neue App-Funktion Scan&Go
Wie wollen Sie vermeiden, dass sich lange Schlangen an den Kassen bilden?
Mit der neuen App-Funktion „Scan & Go“ können die Kunden zum Beispiel kontaktlos, ohne Kassenbesuch, im Geschäft bezahlen. Wir sind im deutschsprachigen Raum der einzige Händler, der diesen Service flächendeckend anbietet. Das ist die Zukunft. Dahinter steckt eine enorme technische Investition. „Scan & Go“ wurde von unseren Programmierern unternehmensintern, ohne externe Dienstleister, entwickelt. Sie müssen als Unternehmen einmal die Entscheidung treffen, ob Sie den Weg der Verschränkung von stationär und digital gehen wollen. Wenn Sie sich dafür entschieden haben, müssen Sie das ganze Thema auch technisch aufbauen. Davon profitieren wir jetzt.
Dieses technische IT-Rüstzeug möchten Sie auch anderen Buchhändlern anbieten?
Das ist der Punkt, warum Osiander zu uns gekommen ist. Amazon gibt jährlich 20 Milliarden Euro alleine für die IT aus. Diese Ungleichheit zwischen Amazon und den Buchhändlern weltweit ist einfach da. Wir haben frühzeitig erkannt, dass man nur überlebt mit einer Kombination aus starken Läden, gutem Personal und einem innovativen IT-Backup. Wir sind in Deutschland das einzige Land, das im Buchbereich auf Augenhöhe mit Amazon operiert. Darauf können wir stolz sein.
Kooperation mit Osiander
Es gibt aber auch Kritik an ihrer Kooperation mit Osiander unter dem Stichwort Verlust der Eigenständigkeit.
Der Vorteil solcher Kooperationen in den Bereichen IT, Webshop und Beschaffung wird sein, die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Buchhändler gegenüber multinationalen Konzernen zu stärken. Ziel der Partnerschaft ist es, erfolgreich Synergien, Kompetenzen und Potenziale zu nutzen, bei gleichzeitig starken und eigenständigen Marken. Die Zusammenarbeit steht unter dem Vorbehalt der Zustimmung des Bundeskartellamtes.
Thalia hat jüngst viel Kritik einstecken müssen für die Bitte an die Mitarbeiter, im Weihnachtsgeschäft unbezahlte Überstunden zu leisten.
Dass dieses Thema so negativ gesehen wird, hat mich persönlich tief getroffen. Wir waren einer der wenigen Einzelhändler, die das Kurzarbeitergeld für die Mitarbeiter auf 100 Prozent aufgestockt haben. Im Juni haben wir die Mitarbeiter komplett aus der Kurzarbeit geholt, obwohl wir zu dem Zeitpunkt noch nicht wussten, wo die Reise hingeht. Durch den Shutdown im Frühjahr und die deutlich niedrigere Besucherfrequenz mussten wir im stationären Geschäft einen Umsatzrückgang von rund 10 Prozent verzeichnen. Und auch im anstehenden Weihnachtsgeschäft rechnen wir mit Umsätzen, die bis zu 10 Prozent hinter dem Vorjahr liegen werden. Da können Sie sich ausrechnen, dass man Kosten senken muss. Jetzt geht es darum, dass wir etwas dafür tun wollen, um auf betriebsbedingte Kündigungen zu verzichten. Wir haben eine gute Lösung mit den Betriebsräten gefunden und unseren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern Vorschläge gemacht, wie sie aktiv unterstützen können. Wir werden niemanden zwingen, freiwillige Überstunden zu machen und dies auch nicht nachhalten.