Düsseldorf. Wo die Stummen zu uns sprechen: Das Düsseldorfer Schauspielhaus zeigt Bertolt Brechts „Mutter Courage“ mit Abstand – und doch voll Intensität.
Der Dramaturg des Jahres 2020 heißt Corona. Er streicht radikal, kein Klassiker ist ihm heilig. Er kennt keine Lieblinge: Nach zwei pausenlosen Stunden muss der Vorhang fallen. Das geht besser als man denkt. Brechts wuchtige „Mutter Courage“, in einer erzählten Zeit von zwölf Jahren ohnehin ein Drama schlaglichtartiger Stationen, durchkämpft die 120 Minuten am Düsseldorfer Schauspielhaus ohne unverzeihliche Blessur.
Es hätten sogar 110 gereicht: überaus verzichtbar, das banal austauschbare Disco-Finale. Ein bemerkenswerter Brecht-Abend ist dennoch zu verzeichnen. Am meisten besticht, wie raffiniert Sebastian Baumgarten Brechts in die Jahre gekommene Modell der Verfremdung in eine Ästhetik unserer Zeit hinüberrettet. Entwaffnend schon die Eröffnung. Die Welt der Händlerin Courage, deren geldbringendes Lebenselixier das Sterben der anderen ist: eine Scheibe, ein Wagenrad, in dessen Achse (Bühne: Alexander Wolf) ein Meer von Kerzen brennt. Und während deren Flammen Sehnsucht nach Wärme und Totengedenken zugleich aufleuchten lassen, tritt die Courage Rosa Enskats (ihr Ton bleibt schnoddrige Beiläufigkeit bis zuletzt) mit einem Bein das ewige Kreisen los. Nichts aber wird in diesem Entrée „gespielt“. Es regiert volle Distanz, wenn die Typen dieses Abends auf einem müden Karussell vorbeiziehen und vorgestellt werden: „Die Schauspielerin Cathleen Baumann...“ Und wer moderiert diesen Einstieg? Listigerweise Courages Tochter Kattrin (Lea Ruckpaul). Eine Stumme!
Sebastian Baumgartens Inszenierung hinterfragt alles und jeden
Es gibt nicht wenige solcher doppelten Böden, mit denen Baumgarts Inszenierung alles und jeden hinterfragt. Psychologische Tiefe, schon bei Brecht keine zentrale Dimension, ist verzichtbar. Dieses Personal im 30-jährigen Krieg (die zwei Dutzend Rollen kocht die Regie unangestrengt auf acht Spieler ein) siedelt zwischen der Unentrinnbarkeit eines Passionsspiels und einer an Zahnfäule leidenden Freak-Show, deren Humor der Galgen gebiert.
Courages berühmter Handel mit dem Koch (herausragend präsent: Wolfgang Michalek) um den Kapaun ist eine kleine Swing-Revue. Die Auftritte der Kriegshure Yvette: aberwitzige Dramolette. Dessaus Klänge saugt ein vorsätzlich stilloser Musikmix mit deftigem Kitschwitz auf. Dazu gesellt Baumgarten seine animationsgesättigte Spielart der Brecht-Gardine: Eine Projektionswand korrespondiert im Hintergrund unentwegt mit dem Geschehen. Während auf der Drehbühne der Schnee schmilzt, lauert oben eine Bilder-Welt aus Fadenkreuz und Frömmigkeit, aus Konsum und Kriegstrümmern.
Wie hier trotz Abstand Intensität erwächst, das ist ein Meisterstück für sich
Brechts Anspielungshorizont exekutiert der Abend straff. Beim Schwedenkönig wird der zweite Vorname Adolf forsch heraustrompetet. Eher blass gezeichnet: Das Dilemma einer Alleinerziehenden, die wir mit ihrem ihren drei Kindern doch zu gern mögen wollen, obschon sie die hässliche Konstante menschlicher Uneinsichtigkeit verkörpert. Übrigens ein Abend, in dem ohne Schutzmasken gespielt wird. Wie hier trotz Abstand Intensität erwächst, das ist in Düsseldorf ein Meisterstück für sich.
Unsere Kritik bezieht sich auf die Generalprobe des Stückes. Tags darauf war Premiere. Wegen der wenigen Plätze sind die Aufführungen bis November ausverkauft. Weitere Termine folgen: www.dhaus.de