Dortmund. Dortmunds Fußballmuseum widmet dem Schriftsteller und Nobelpreisträger Günter Grass (1927-2015) eine Sonderschau: „Mein Fußballjahrhundert“.
Selbst hat Günter Grass nur einmal auf dem Fußballrasen gestanden, sein Sohn Bruno überredete ihn, beim heimatlichen Dorf-Verein TSV Wewelsfleth für die Alten Herren anzutreten, in der passenden Position, versteht sich: „Klappte zwar anfangs nicht mit der Ballannahme, gab dann aber als Linksaußen ein paar ganz gute Flanken vors gegnerische Tor. Weil er bis in die zweite Halbzeit ausgehalten hatte, bekam er sogar Beifall,“ heißt es in Grass‘ autobiografischen „Dunkelkammergeschichten“ unter dem Titel „Die Box“; anschließend lag der Dichter drei Tage mit dem Eisbeutel überm Knie auf dem Sofa. Dass er damals den Ehrentreffer zum 1:4 geköpft habe, stellt sich aber als Wunschtraum heraus.
2006 hat Grass sich dabei ertappt, wie er im Stadion die Nationalhymne mitsang
Und doch war der Literaturnobelpreisträger gebannt vom Tanz um den Ball, und vielleicht am meisten im Jahr 2006: Sechs Spiele der Sommermärchen-WM sah er im Stadion, viele andere am Fernseher. 1990, sagte Grass, habe er sich dabei ertappt, wie er den Deutschen im Halbfinale gegen die Briten die Daumen drückte – 2006 habe er sich dabei ertappt, wie er im Stadion die Nationalhymne mitsang. Freude fand an der spielerischen, einfallsreichen, spontanen Art, in der sich die Deutschen damals mit ihrer Nation vereinigt hätten, die man ja nicht den Rechten überlassen dürfe. Und als Schriftsteller lernte Grass ein völlig neues Publikum kennen, als er 2004 eine Benefiz-Lesung für den absturzbedrohten FC St. Pauli gab und 2000 Fans kamen – er soll damals vor Spaß kaum in den Schlaf gekommen sein.
Und nun dürfte das Staunen umgekehrt auch nicht klein sein, wenn Freunde des gepflegten Rasensports unten im Dortmunder Fußballmuseum auf Günter Grass stoßen – etwa in Gestalt der originalen Nobelpreis-Urkunde von 1999. Oder mit einem Brief von Grass an den einstigen Nationalmannschaftstrainer Sepp Herberger, mit dem er ihn 1969 bat, bei der Wahlwerbung für Willy Brandt mitzumachen – Herberger antwortete ablehnend, aber sehr ausführlich…
Das Originaltor vom 1:7 der deutschen Weltmeister von 2014 gegen Brasilien
Das Museum hat gemeinsam mit dem Grass-Haus in Lübeck die Ausstellung „Günter Grass: Mein Fußballjahrhundert“ auf die Beine gestellt, die heute eröffnet wird. Manuskripte, Aquarelle und das Originaltor vom 1:7 der deutschen Weltmeister von 2014 gegen Brasilien – weil Grass sehr angetan war von der Fairness der deutschen Spieler, die sich nicht als Triumphator gerierten, sondern Mitgefühl mit den deklassierten Gegnern zeigten. Neben dem Gedicht „Nächtliches Stadion“ aus Grass‘ erstem Gedichtband „Die Vorzüge der Windhühner“ („Langsam ging der Fußball am Himmel auf. / Nun sah man, daß die Tribüne besetzt war. / Einsam stand der Dichter im Tor, / doch der Schiedsrichter pfiff Abseits.“) ist es vor allem der Erinnerungsband „Mein Jahrhundert“: Darin nutzt Grass, wie Fußballmuseums-Chef Manuel Neukirchner sagt, „den Fußball, um gesellschaftliche Entwicklungen zu beschreiben.“
Das Jahr 1903 ist da dem ersten Finale einer Fußballmeisterschaft in Deutschland gewidmet, wo es noch nicht einmal eigene Begriffe für den aus England importierten Sport gab und man von „corner“ statt Ecke sprach und von „Goal“ statt Tor. Das heimliche Thema des Spiels VfB Leipzig gegen DFC Prag auf einem Exerzierplatz in Altona aber ist die Einwanderung und Integration mit Ausblick auf Szepan und Kuzorra (die Ausstellung zeigt die einzige noch erhaltene Eintrittskarte zu dem Spiel).
Grass drückte auch dem Frauenfußball bei der WM 2011 die Daumen
1954 wiederum sind es nach dem „Wunder von Bern“ die Anfänge der Kommerzialisierung, fokussiert auf die mehr oder weniger erfolgreichen Geschäftsleute Ferenc Puskas und Fritz Walter (da sehen wir einen Brut-Sekt aus der Pfalz als „Fritz-Walter-Ehrentrunk“ etikettiert und einen Werbewimpel für die spanische Puskas-Salami). Grass drückte dem Frauenfußball bei der WM 2011 auch deshalb die Daumen, weil er hoffte, der könne eine Kommerzialisierung wie bei den Männern vermeiden.
1974 schließlich lässt Grass in „Mein Jahrhundert“ dann den Spion Günter Guillaume in seiner Zelle schwanken, ob er nun der BRD oder der DDR die Daumen drücken sollte. Die Ausstellung nimmt das zum Anlass, mit den Trikots von Uli Hoeneß und Hans-Jürgen Kreische zu erzählen, dass beiden Mannschaften ein Tausch der nationalen Herrenoberbekleidung verboten war – und wie Berti Vogts sich dann heimlich in der Umkleide die Trikottasche des West-Teams schnappte, in die DDR-Kabine rübermachte und mit der gegnerischen Trikottasche zurückkehrte. Und die Original-Pfeife aus dem WM-Finale von 1974 (die erste, mit der ein Elfmeter bei einem Weltmeisterschafts-Endspiel gepfiffen wurde) zeigt die Ausstellung auch. Fehlt höchstens noch die Pfeife, die Grass dazu rauchte.
„Günter Grass: Mein Fußballjahrhundert“. Deutsches Fußballmuseum. Platz der Deutschen Einheit 1, Dortmund.
Geöffnet: Di-Fr 11-17 Uhr, Sa/So 10-17 Uhr (in den Herbstferien immer 10-18 Uhr). Eintritt (für das gesamte Museum): 17 Euro, Schüler und Studierende unter 26: 14 Euro; Kinder unter 6: frei. Online gebuchte Karten kosten 2 Euro weniger.