Essen. Jon Bon Jovi nimmt Haltung an. Auf „2020“, dem neuen Album seiner Band, lässt der Frontmann kaum ein gesellschaftspolitisches Thema aus.
Nur mal so ein Gedanke: Wie hätte sich Jon Bon Jovi wohl geschlagen, dort oben auf dem Präsidentschaftsdebattenpodium in Cleveland/Ohio? Laut werden kann er, das beweist er seit über 35 Jahren als Sänger von Welthits wie „Livin‘ On A Prayer“ oder „It’s My Life“. Niedergebrüllt hätte ihn sein Kontrahent also kaum. Außerdem weiß er, wie man das Publikum auf seine Seite zieht, und er strahlt eine grundlegende Gelassenheit und Souveränität aus. Ergo: US-Präsident Jon Bon Jovi – warum eigentlich nicht? „Weil ich zu wenig Wissen habe, um diesen Job zu machen, vor dem ich sehr, sehr viel Respekt habe“, sagte er jüngst der „Sunday Times“ und schloss eine Kandidatur auch in Zukunft kategorisch aus.
Bon Jovi ist überzeugt, dass er in seinem aktuellen Beruf mehr bewirken kann. Statt sich möglicherweise im Wahlkampf zu verheizen, richtet er sich in seiner neuen Rolle aus Schattenkanzler des Mainstreamrock ein. „2020“ heißt das neue Album seiner Band, deren uneingeschränkter Chef er spätestens nach dem wenig ehrenhaften Abgang des Gitarristen Richie Sambora vor sieben Jahren ist. Auf dem Cover der Platte, die wegen der Pandemie mit fünfmonatiger Verspätung, aber dafür mit zwei maßgeblichen neuen Songs nun endlich erscheint, sieht man ihn in Denkerpose. In den Gläsern seiner Sonnenbrille schimmert die amerikanische Flagge.
Jon Bon Jovi hat in seiner Karriere 130 Millionen Alben verkauft
58 Jahre ist Bon Jovi jetzt alt. Die Haare sind grau, aber immer noch voll und geradezu wallend, das Gebiss nach wie vor prädestiniert für ein gewinnendes Lächeln, der dezent muskulöse Oberkörper wie geschaffen für hautenge T-Shirts. Jon Bon Jovi hat in seiner Karriere 130 Millionen Alben verkauft, spielt seit dem monströs erfolgreichen „Slippery When Wet“-Album (1986) in Stadien und flog im Privatjet umher, als das noch cool war.
Aber ein heißblütiger Hitzkopf war er nie. Seit vierzig Jahren ist er mit seiner High-School-Liebe Dorothea zusammen, davon 31 verheiratet, das Paar hat eine Tochter und drei Söhne im Alter von 16 bis 27 Jahren. Natürlich ist der Mann sagenhaft reich. In diesem Sommer hat er seine alte Villa in Palm Beach/Florida für 20 Millionen Dollar verkauft, um sich im gleichen Ort eine mehr als doppelt so teure Bleibe zuzulegen. Aber trotzdem weiß er laut Spiegel-Interview, was der Liter Milch kostet. Und in seinem Heimatstadt New Jersey betreibt er drei Restaurants, in denen Bedürftige kostenlos speisen dürfen, wenn sie sich anderweitig einbringen, etwa als Koch oder Kellner.
Corona-Durchhaltehymne „Do What You Can“ kam nachträglich auf das Album
Einigermaßen berühmt wurde in diesem Frühjahr das in den sozialen Medien veröffentlichte Foto, das Jon beim Geschirrspülen in einem seiner Lokale zeigt und dessen Unterzeile „If you can’t do what you do… do what you can“ ihm die Idee für die Bon-Jovi-Corona-Durchhaltehymne „Do What You Can“ lieferte, die noch nachträglich auf das Album kam.
Richtig unter die Haut geht der zweite neue, im Lockdown entstandene Song. „American Reckoning“ (amerikanische Abrechnung), eine intensive, spärlich instrumentierte, etwas an Jons Kumpel Bruce Springsteen erinnernde und mit rauer Stimme vorgetragene Nummer, greift den Polizistenmord an George Floyd auf. „Eine weitere Mutter weint. Die Geschichte wiederholt sich. Ich kann nicht atmen“, singt Bon Jovi in diesem wirklich berührenden Song.
Ein Appell an Mitgefühl gegenüber Migranten
Überhaupt: So gut wie jedes der zehn Lieder bezieht Stellung. „Brothers In Arms“ spricht sich gegen Rassismus aus, „Lower The Flag“ ist eine Anklage gegen die alltägliche Waffengewalt, „Blood In The Water“ ein Appell an Mitgefühl gegenüber Migranten. „Unbroken“ hat der Sohn eines Elitesoldatenpaares den Veteranen gewidmet, und die Midtempo-Gitarrennummer „Story Of Love“ ist eine Ode an den familiären Zusammenhalt.
Den sonnig-trotzigen Optimismus früherer Hits (der hier höchstens noch in der Vorabsingle „Limitless“ durchscheint) hat Bon Jovi durch eine bislang nicht gekannte Gravität ersetzt, die hier und da freilich arg überseriös wirkt.
Jon Bon Jovi steht auf der Seite von Barack Obama, Hillary Clinton und Joe Biden
Richtig viel Spaß macht dieses Album also nicht, aber richtig viel Spaß lässt ja auch die Welt da draußen gerade vermissen. Auch wenn „2020“ über weite Strecken wie ein Regierungsprogramm klingt, vermeidet es der Silberrücken des Rock, sich politisch auf eine Seite zu schlagen. Alle, die sich dafür interessieren, wissen, wo Jon Bon Jovi steht. Er unterstützte Barack Obama, Hillary Clinton und auch für Joe Biden hat er schon ein Spendensammelkonzert gespielt. „Ich bin überzeugt, dass er ein gutes Verständnis für die amerikanischen Gefühle, Bedürfnisse und Hoffnungen besitzt“, sagt er über den Kandidaten der Demokraten. „Ich denke auch, dass Erfahrung zählt.“
Kategorisch verzichtet er indes darauf, offen zum Angriff auf den Amtsinhaber aufzurufen. Zum einen hat er unter den Trump-Anhängern viele Fans, die Kernzielgruppe Bon Jovis ist nun mal das weiße, mittelalte Amerika. Zum anderen sagt er: „Jede weitere Spaltung verschlimmert nur die Krankheit. Ich möchte nicht noch mehr Hass verbreiten, sondern meinen Beitrag zur Heilung leisten.“ Und so besingt er in „Beautiful Drug“, dem stadionhymnischsten der neuen Songs, ganz unumwunden und ohne Ironie die Macht der Liebe.