Dortmund. Judith Kuckart ist die erste Stadtschreiberin in Dortmund – und erkundet (eigene) Heimatgefühle, auch mit dem Theaterstück „Hörde, mon amour“
Als Judith Kuckart zum ersten Mal nach vielen Jahren am Dortmunder Hauptbahnhof aus dem Zug stieg, musste sie beinahe über sich selbst lachen. „Dortmund war über die Jahre für mich zu einem Sehnsuchtsort geworden“, erzählt die 61-Jährige im Café „Schönes Leben“ im Kreuzviertel: „In dem Moment aber dachte ich, Kuckart, du spinnst!“ – mit dem, was man sich unter einem solchen Sehnsuchtsort vorstellt, hatte der erste Blick auf Dortmunds Innenstadt wohl nicht viel gemein. Tatsächlich waren es prägende Kindheitserinnerungen, die die Schriftstellerin dazu brachten, sich überhaupt noch einmal auf ein Stipendium zu bewerben – und die sie nun als erste Dortmunder Stadtschreiberin Erinnerungen mit dem Heute abgleichen lassen. Denn: „Früher war ja auch nicht alles wie früher.“
Dortmund war, neben Schwelm, gewissermaßen Judith Kuckarts Heimat
Dieser trockene Humor, da weht etwas Sauerländisches hindurch. Aufgewachsen ist Judith Kuckart in Schwelm, fand über den Tanz und die Bühne den Weg zur eigenen Regie, zu eigenen Texten. Noch immer aber, nach Jahren als Leiterin eines eigenen Tanztheaterensembles und nach einer Vielzahl von gelobten Romanen, hat sie sich eine Bodenständigkeit bewahrt, schafft scheinbar mühelos den Sprung von der Kunst- zur Alltagswelt. „Ich könnte Ihnen da jetzt etwas Blumiges erzählen...“, wird sie einmal in diesem Gespräch sagen, aber: Nö. Die Blumen werden über den Konjunktiv nie hinauswachsen. Schnörkellos, so gestaltet Kuckart ihre Suche nach Erkenntnis.
Dortmund war, neben Schwelm, gewissermaßen Kuckarts Heimat, „eine prägende Zeit“ habe sie hier verbracht und führt ganz geduldig ein in eine komplexe familiäre Situation: In Hörde lebte sie mit ihrer Großmutter und deren Schwester, die wiederum ihren kleinen Enkel großziehen musste, der seine Mutter verloren hatte. „Ich war acht Jahre alt und er vier, ein schwieriges Kind“ , erinnert Judith Kuckart sich. Und ihre eigenen Eltern? „Ich war auch in Schwelm immer lieber bei der Großmutter, als sie zu ihrer Schwester ging, ging ich eben mit – und man hat mich gelassen.“
Was sie in Hörde erlebte, in aller Kürze: Eine Welt wie aus Ralf Rothmanns Romanen, Dreck, Schlote, Enge, Kinderbanden auf der Straße: „Der Winterberg gegen den Sommerberg, Jungs gegen Mädchen. Ich habe damals gelernt, dass es am besten ist, wenn man Bandenführerin ist.“ Radfahren, „das lernte ich auf einem Fahrrad ohne Sattel, das war sehr gut für die Beinmuskulatur“ (sagt, natürlich, die spätere Tänzerin).
Das Theaterprojekt „Hörde, mon amour“ erzählt von Heimatgefühlen
Dieser Stadtteil also wird jetzt zu „Hörde, mon amour“: Einem Theaterprojekt vor Ort, mit Menschen vor Ort, die ihre Geschichte erzählen – vom ehemaligen Leiter des Heimatmuseums bis hin zu zwei jungen Frauen aus Syrien, die erst seit zwei Jahren in Deutschland leben. Morgen, erzählt Kuckart, will sie zum ehemaligen Freibad Schellacker fahren – „da betreiben jetzt Leute Urban Gardening“. Neben den Beiträgen der Laien werden zwei Schauspieler vom Theater Dortmund am Projekt teilnehmen, mit Texten von Judith Kuckart zum Thema Heimat.
Was das ist, Heimat? Ganz viel. „Wo man herkommt, wo man hinwill. Für manche Menschen ist es der Beruf. Für mich ist es das Erzählen. Und ganz konkret, die Stadt Berlin: Weil ich dort die meiste Zeit meines Lebens verbracht habe und weil dort mein Mann lebt.“ Wie wird man heimisch? Wann weiß man, dass man heimisch geworden ist? „Ich melde mich in einer neuen Stadt im Sportclub an“, sagt Judith Kuckart, für andere ist es vielleicht der Chor, die Skat-Runde. Immer aber ist es so, dass ein Netz aus Menschen irgendwann das Heimatgefühl trägt.
Kuckart: „Die Willkommenskultur ist im Ruhrgebiet vielleicht größer als anderswo“
Womöglich, das ist die leise Hoffnung nach diesem Gespräch, geschieht dies im Ruhrgebiet schneller als anderswo. Denn: „Wenn man hier nach dem Weg fragt,“ berichtet die begeisterte Alt-Neu-Dortmunderin Kuckart, „wird man in ein Gespräch verwickelt – und oft heißt es, ich geh mal eben mit. Gestern Abend hat mich einer auf seinem Schönes-Wochenend-Ticket mitgenommen! In Berlin würde so etwas niemals passieren.“ Dies sei „eine Art vielleicht unbewusster Willkommenskultur, die im Ruhrgebiet größer ist als anderswo“.