Autorin Ulrike Draesner nähert sich in „Schwitters“ einem bewegten Leben – aber hat keinen herkömmlichen biografischen Roman geschrieben.

„Fümms bö wö tää zää UuB …“, so hebt die Ursonate des Kurt Schwitters an, um wenig später in einem langen „Oooooooooooooo …“ vorübergehend innezuhalten, damit dann erst recht seitenlang Fahrt aufgenommen werden kann. Fast zehn Jahre lang hat der deutsche Dadaist ab 1923 sein Lautgedicht immer wieder verändert, wovon sich fortan die Interpreten herausfordern ließen, die es ihrerseits veränderten.

Dann aber wechselten die Machthaber und Schwitters, der Grafiker, Typograf, Schriftsteller, Unterhalter und Musiker, der sich nie einer politischen oder künstlerischen Gruppe angeschlossen hatte, galt plötzlich als entartet. In der Folge gab es keine Aufträge mehr für den Werbegrafiker, weder von der Firma Pelikan noch von seiner Heimatstadt Hannover. Seine Kunst gefährdete ihn, und auch als Epileptiker war sein Leben in Deutschland nichts mehr wert. Der mit seinem MERZbau in zwei Jahrzehnten eine begehbare Plastik in einem der vom Vater ererbten vier Mietshäuser hatte wachsen lassen, sollte nun ausgemerzt werden. Hunderte von Arbeiten musste er zurücklassen und auch seine Frau Helma, die sich um sein Werk kümmern würde, das aus unendlich vielen Fundstücken gewachsen war. Gern ließ Helma den Schürzenjäger nicht ziehen, doch war sie tolerant und treu.

Ulrike Draesner hat keinen biografischen Roman im herkömmlichen Sinne geschrieben

Er nicht. Er ging zu seinem Sohn Ernst, der als Kurier der sozialdemokratischen Arbeiterjugend in Norwegen lebte. Er floh mit ihm nach England, als die Deutschen Norwegen überfallen hatten. Im Lake District schließlich kam der Dichter und Bildner des Paradoxen, der sich selbst „komischer Kauz“ nannte, einigermaßen zur Ruhe, weil er mit der halb so alten Edith Thomas eine neue Partnerin gefunden hatte und sie für ihn einen Schuppen, in dem er seinen vierten MERZbau beginnen konnte, bis er im Januar 1948 starb. Er hatte in Nordengland gelebt „mit dem abgelaufenen Pass eines abgelaufenen Reichs“ und „mit Bieratem und Müllfindeblick und dem allerletzten Rest Kurtgenie“ gemalt fern von daheim, wo 1943 sein Besitz und seine Werke bei einem Bombenangriff zerstört worden waren. Was blieb, entzweite die Erben und zählt zu den Klassikern der Moderne.

Ulrike Draesner, Lyrikerin, Erzählerin und Professorin am Literaturinstitut Leipzig, erzählt dieses Leben und hat doch keinen biografischen Roman im herkömmlichen Sinne geschrieben. Natürlich irrlichtern Zeitgenossen wie Karl Valentin, Kandinsky, Klee, Benn, Arp, Gropius, Hausmann, Tzara oder Hannah Höch durch den Text, doch darum geht es nicht.

Kurt Schwitters: „Kunst handelt nicht von ihrem Gegenstand, sie erzeugt ihn“

Sehr lang und immer länger taucht die Autorin am Gerüst des äußeren Lebens entlang hinein in das, was sie als innere Geschichte ihres Protagonisten vermutet und einkreist. Ein wenig orientiert sie sich an Virginia Woolf, wenn sie ihr Netz aus Sprache über die Ereignisse wirft. Sie kriecht mit immer neuen poetischen Wendungen förmlich hinein in die Wörter. Das ist ebenso reizvoll wie anstrengend auf Dauer. Doch so muss das wohl sein, wenn man einem Credo folgt: „Kunst handelt nicht von ihrem Künstler. Sie handelt nicht von sich. Nicht einmal von ihrem Gegenstand. Sie erzeugt ihn.“

Ulrike Draesner: Schwitters. Penguin Verlag, 474 S., 25 €