Düsseldorf. Demis Volpi beginnt als Chef des Balletts am Rhein. Corona warf alle Pläne über den Haufen. Doch der Choreograf sucht Freiraum in der Begrenzung.

Generationswechsel am Ballett der Rheinoper. Auf den 61-jährigen Martin Schläpfer folgt mit Demis Volpi (34) ein junger Star der Szene. Weltweit gefeiert, schon vor der Einschulung verrückt nach Ballett, ein Workaholic in Sachen Tanz: Den außergewöhnlichen neuen Direktor traf Lars von der Gönna zum Gespräch.

Einen wie Sie wünschen sich Journalisten: Da muss man gar keine Geschichte stricken. Ein argentinischer Bub hüpft mit vier durchs Zimmer und ruft „Ich will Balletttänzer werden!“

Demis Volpi: Ja, so war es wirklich. Ich bin eines morgens aus dem Bett gesprungen und hab’ meiner Mutter genau das gesagt. Auch wenn bis heute keiner weiß, was ich mir damals dabei gedacht habe. Ich hab’ aber nicht nachgelassen. Und meine Eltern haben das ernstgenommen: Schon mit knapp fünf hatte ich den ersten Unterricht. Ich erinnere mich noch an das erstaunte Gesicht der Lehrerin, weil mir das alles ganz vertraut war.

Dass Sie überall der Jüngste sind, scheint ein Leitmotiv Ihres Lebens. Ganz früh schon in Stuttgart als erfolgsverwöhnter Choreograph. Das klingt alles so leicht...

Na, manchmal muss man schon nachhelfen. Ich wollte mit 14 zum Beispiel unbedingt an die National Ballet School von Toronto, schickte meine Videokassette hin. Aber ich hörte nichts. Ich hab’ dann einfach angefangen, da anzurufen. Natürlich landete ich beim Pförtner. Irgendwann hab’ ich gesagt: Es sei ein „Emergency“, ein Notfall. Die Leiterin der Schule wurde aus einem Meeting ans Telefon geholt, Mavis Staines erinnert sich bis heute daran (lacht). Aber es hat geklappt. Sie war beeindruckt von meiner Not – vom Wunsch, etwas zu wollen.

Sie treten in einer Zeit an, in der klar priorisiert wird: Die Bühnen stehen nicht weit vorne...

Ich finde den Begriff „systemrelevant“ gefährlich, weil er beinhaltet, dass es auch systemirrelevante Einrichtungen gibt. Mit einer Sicht, die das pure Überleben im Auge hat, werden wir letztlich auf Tiere reduziert. Was den Menschen ausmacht und unterscheidet von anderen Lebewesen, blendet sie aus. Übrigens glaube ich, dass vieles von dem, was derzeit Negatives hochkommt, damit zu tun hat, dass unser kulturelles Leben stillsteht. Das reicht von der Aggression bis zur Sehnsucht.

Mir gefällt ein Leitsatz Ihrer Arbeit: „Ich möchte Geschichten erzählen, die jeder verstehen kann.“

Ich glaube, gute Kunstwerke funktionieren immer auf mehreren Ebenen. Es geht mir nicht um die große Vereinfachung. Aber mit einer guten und gut ausgearbeiteten Geschichte nimmt man jeden mit – und sei es, dass er einfach spürt: hier ist eine Kraft, hier passiert etwas.

Apropos passieren: Zum ersten mal Direktor, die tollsten Ideen, man will am Rhein einen richtig starken Start hinlegen. Und dann kommt der Lockdown. Haben Sie manchmal „Sch...“ geschrien?

Hab’ ich auch. Tanz ist nun einmal Nähe, Theater ist Begegnung. Man könnte sich jetzt über die Bundesligaspieler beschweren, die etwas dürfen, was uns verwehrt wird. Das wäre falsch. Die Aufgabe bleibt, Theater zu machen in der Welt, in der wir leben. Das ist aktuell eine globale Pandemie. Meine Aufgabe ist, Tanz zu ermöglichen, auch wenn es nicht das ist, was ich mir vorgestellt habe. Aber jetzt find ich’s sogar spannend, nach Freiräumen in diesen Begrenzungen zu suchen.

Sie gelten als aufmerksamer Beobachter des menschlichen Alltags. Fließt das in die Kunst?

Ständig! Kunst darf keine Blase sein. Als Choreograph ist man im positiven Sinne voyeuristisch unterwegs. Genau zu beobachten, ist eine ganz zentrale Aufgabe.

Sie stehen jetzt an der Spitze einer Kompanie. Wie führen Sie?

Klar muss ich Entscheidungen treffen. Aber was ich am Theater liebe, ist, dass wir alle ohne einander nicht arbeiten können. Wenn ein Techniker den Boden nicht richtig verlegt, kann ein Weltstar kommen, aber er wird nicht tanzen. Also wer ist wichtiger? Das muss als Grundhaltung immer da sein.

Ihre erste Begegnung mit Deutschland spielt auch am Rhein, Sie waren zehn Jahre alt, in Rüdesheim...

Ja, meine Eltern wollten uns damals Deutschland zeigen. Keiner von uns kannte dieses Land. Erster Halt: Rüdesheim. Da war ein Markt und meine Schwester ging zu einem riesigen Korb mit herrlichen bunten Gummibärchen und sagte „Ein Gummibär bitte“. Da nahm die Verkäufern ihren großen Scheffel, wog einen Gummibären aus – und bat meine Eltern um zwei Pfennige.

Wie fanden ihre Eltern das?

Sie waren erstaunt über die deutsche Gründlichkeit. In Argentinien hätte man das Bärchen vermutlich so bekommen (lacht).