Essen. Sehen und gesehen werden: Samantha Schweblin präsentiert sich in ihrem neuen Roman „Hundert Augen“ einmal mehr als Meisterin der Verstörung.
Sie sind plüschig, eiförmig und stellen Pandabären, Eulen, Maulwürfe oder Drachen dar. Sie bewegen sich auf Rollen und können nicht sprechen – aber, dank der Kameras in ihren Augen, „sehen“. Die Kentukis erobern als digitale Haustiere die Welt, sie funktionieren so einfach wie genial: Denn hinter jedem steckt ein realer Mensch, der das Wuschelwesen vom heimischen PC aus steuert. Und bald schon teilt sich die Welt in jene, die „sein“ wollen, und jene, die „haben“ wollen – in Herren und Diener.
Samantha Schweblin, vor 42 Jahren in Argentinien geboren und in Berlin beheimatet, zeigt sich einmal mehr als Meisterin der Verstörung. Hat sie zuvor in ihren Erzählungen und Romanen („Sieben leere Häuser“, „Das Gift“) mit den Mitteln des magischen Realismus die Wahrnehmung der erzählten Welt ins Wanken gebracht, braucht sie nun nur eine höchst veraltete Technik, wie einer ihrer Protagonisten staunt: Über eine simple Telefonverbindung wird der Kentuki angewählt und per Tastatur gesteuert.
Nah an den Sehnsüchten der Menschen
Warum nur ist in der Realität noch niemand auf diese Idee gekommen? Die Antwort gibt – selbstverständlich – der Datenschutz: Wer einen Kentuki aus dem Karton holt und auflädt, weiß nicht, wen er sich da buchstäblich ins Haus holt; die steuernden Menschen, die ihrerseits den Anschluss kaufen mussten, sind anonym. Allerdings lässt sich Kontakt herstellen: Ein alter, krebskranker Mann in Buenos Aires schickt dem kleinen Jungen, der hinter seinem Kentuki steckt, Geschenke und erhält dafür Dankesbriefe. Ein Kentuki-Mann aus China verliebt sich in eine ebenfalls chinesische Kentuki-Frau; weil ihre Menschen in Lyon ihnen das Alphabet auf den Boden gemalt haben, können sie kommunizieren. Ein anderer Kentuki, der als Schaufenster-Attraktion sein Dasein fristet, lernt das Morsealphabet und kann mit Hilfe einer Putzfrau nachts in die Freiheit fliehen (muss aber tagsüber zurück an die Ladestation).
Ein weltumspannendes Netz an Geschichten breitet Schweblin aus, ganz nüchtern und lakonisch erzählt und doch sehr nah an den Sehnsüchten der Menschen. Es geht ums Sehen und ums Gesehenwerden, um die Faszination, in Privatsphären einzudringen, in fremde Leben zu blicken. Um den Drang, sich zu zeigen, in den Kamera-Augen Bedeutung zu erlangen.
Der Wunsch nach Verbindung
Auf plüschige Weise hat Schweblin konsequent weitergedacht, was die Menschen heute in den Sozialen Medien tun, hat dies kombiniert mit Beobachtungen aus dem Beziehungsalltag: Hier werden die Kentukis gehätschelt, dort in Abhängigkeit gehalten, anderswo gar misshandelt oder erschreckt durch die Bilder, die man ihnen zu sehen gibt. Manchmal aber steckt in den Kentukis das Böse, werden die Beobachter zu Ausspähern, Erpressern.
Der Wunsch nach Verbindung wird zum Risiko – manchmal aber auch zur Rettung. Eva in Erfurt war immer freundlich zu ihrem Kentuki, und so fühlt sich Emilia in Peru durchaus als mütterliche Beschützerin. Als Eva von ihrem Freund beklaut wird, schreitet Emilia ein, denn: „Sie waren sich gegenseitig wichtig, und was sie gemeinsam erlebten, war etwas Reales.“
Samantha Schweblin: Hundert Augen. Suhrkamp, 252 S., 22 €