Essen. Wer den Film „Wege des Lebens“ anschaut, wird das Kino wohl kaum fröhlich verlassen. Aber dafür ist er um einen Blick auf das Leben reicher.

Gut, dass die Kamera von Robbie Ryan in diesem Film so schmerzhaft nah an die Gesichter der Menschen herangeht, wie man es in Zeiten von Corona schon mal gar nicht tun würde, aber auch unter normalen Umständen kaum. Nicht, dass es „Wege des Lebens“ dringend bräuchte, größer als das Leben zu sein. Aber die Gesichter der wieder einmal hochklassigen Schauspieler, die Regisseurin Sally Potter („The Party“, „Orlando“) für ihren neuen Film „Wege des Lebens – The Roads not taken“ verpflichtet hat, können das nicht nur tragen, sie verlangen geradezu danach.

Am meisten vielleicht das von Elle Fanning. Als Tochter von Leo (Javier Bardem), der mal ein ganzer Kerl war und nun dem körperlichen wie geistigen Verfall entgegendämmert, strömen ihr immer wieder Mitleid und prustende Heiterkeit, Trauer, Entsetzen und Liebe durchs Antlitz. In immer neuem Wechselspiel und mit Tränen im passenden Augenblick. Kaum weniger anspruchsvoll, auf ganz andere Weise, was Javier Bardem leistet als jemand, dem ein Schlaganfall oder auch nur das Alter schon enge Grenzen im Mienenspiel setzt, das oft wie eingefroren wirkt.

New York, Mexiko, Griechenland

Der Rahmen: 24 Stunden in New York. Leo muss erst zum Zahnarzt und schon bald eine neue Hose haben, weil er sich eingenässt hat. Im Fabrikhallen-Supermarkt verliert ihn seine Tochter Molly ihn aus den Augen, irgendwann wird die Polizei ihn suchen und finden bei mitfühlenden Menschen, Arbeits-Immigranten im Taxifahrer-Job.

Aber diese Odyssee ist nur ein Drittel des Films, immer wieder gleitet Leo in eine Mischung aus Erinnerungen und Träumen ab, von denen seine Tochter Molly nichts oder gar nichts weiß. Elegisch entwickeln sich Lebensstränge, von denen unklar bleibt, ob sie real oder imaginiert sind. Leo verzweifelt da irgendwo in Mexiko mit seiner Jugendliebe Dolores, weil ihrer beider Sohn bei einem Verkehrsunfall ums Leben kam. Und Leo rennt als einsamer, mittelalter Schriftsteller auf einer Insel irgendwo in Griechenland blitzverliebt einer blutjungen Touristin hinterher; am Ende wird sie ihn schmerzhaft daran erinnern, dass er gerade selbstsüchtig seine Frau und die soeben geborene Tochter verlassen hat, um ungestört seinen Schriftsteller-Plänen nachgehen zu können, zu trinken und zu sinnieren.

Gesichter und Farben erzählen diesen Film fast allein

Wiederum bis an die Schmerzgrenze hat Sally Potter diese Traum-Erinnerungs-Stränge in klar abgegrenzte Farbräume eingeteilt. Die Mexiko-Geschichte ist eine einzige Sinfonie aus gelb und rot, orange und braun – und Griechenland kommt in fast schon kalendertauglichen Blau-Tönen, dem Weiß der Häuser und großartigen Küstenlandschaften daher. Umso zurückhaltender, beinahe lakonisch die Musik, so dass Gesichter und Farben diesen Film fast allein erzählen.

Ein Kammerspiel, das pulswarm von der unverwüstlichen Liebe einer Tochter erzählt, von der Unverantwortlichkeit des Egoismus und von einem Leben, zu dem tatsächlich wohl auch jene Wege gehören, die wir nicht gehen, weil sie versperrt bleiben von anderen, weil wir sie nicht erkennen, weil uns die Geistesgegenwart fehlt, der Mut oder der Leichtsinn. Mit dieser Einsicht wird man das Kino kaum fröhlich verlassen. Aber um einen Blick auf das Leben reicher.