Schriftsteller Robert Seethaler nähert sich in seinem neuen Roman „Der letzte Satz“ Gustav Mahler an – und begleitet ihn bei seiner letzten Reise.

Was ist ein gutes Leben? Dieser Frage geht der längst international erfolgreiche Autor Robert Seethaler in allen seinen Romanen nach, ob er sich nun ins hinterwäldlerische Tal begibt („Ein ganzes Leben“) oder auf Sarghöhe unter die Erde, um die Toten selbst sprechen zu lassen („Das Feld“) – stets geht es darum, das Gewese des Fortschritts zu entlarven und uns Leser endlich aufs Wesentliche zu besinnen.

Wenn nun kein Geringerer als der Komponist Gustav Mahler (1860-1911), schon tödlich geschwächt, fiebernd und Blut hustend, an Deck der „Amerika“ ein letztes Mal den Atlantik überquert und auf sein Leben zurückblickt, sieht auch dieser Ausnahmekünstler viel Oberflächlichkeit. Dieser Zirkus um die „Symphonie der Tausend“ in München, die absolut überflüssigen Sitzungen bei Auguste Rodin für eine Büste, die Mahler doch nie wollte.

Das völlig vergebliche Gespräch mit Sigmund Freud, den er eigens im niederländischen Leiden aufsuchte, um bei einem Spaziergang vier Stunden lang seine Eheprobleme mit Alma vor ihm auszubreiten – und dann mit ein paar nichtssagenden Sätzen abgespeist zu werden! Wie wertvoll hingegen jener Moment im Sommer vor drei Jahren, als er diesen Vogelruf hörte, „es waren die Töne, die er so lange vermisst hatte, ohne sie je eigentlich zu suchen“ – sie waren „spöttisch und gemein“ und lösen einen Schaffensrausch aus; später wird er Alma erzählen können, er sei vorangekommen mit der Neunten.

Im jüngsten Bestseller-Boom der Künstlerromane geht es um menschliche Nähe

Das Komponierhäuschen, in dem Mahler in Toblach im Südtiroler Pustertal während dreier Sommer von 1908 bis 1910 arbeitete, ist noch heute zu besichtigen. Die Faszination, sich das Gewesene vorzustellen, in der Zeit zurückzureisen und einem Genie beim Menschsein zuzusehen, aber ist Verlockung und Falle zugleich. Im jüngsten Bestseller-Boom der Künstlerromane – man denke an Klaus Modicks „Konzert ohne Dichter“ über Rainer Maria Rilke oder Michael Kumpfmüllers Annäherungen an Kafka („Die Herrlichkeit des Lebens“) oder Virginia Woolf („Ach, Virginia“) – scheint es ein wenig zu sehr darum zu gehen, Nähe zu schaffen.

Dieser Mahler, den Robert Seethaler uns aufs Schiffsdeck setzt, auch er ist uns so ähnlich! Die tiefe Trauer um den tragischen Tod der ältesten Tochter, die Eifersucht wegen Almas Affäre mit dem „Baumeister“ (Walter Gropius), wir können sie so gut nachvollziehen. Gerade dies aber sollte unsere Skepsis wecken: Wie ein hochbegabter Künstler die Welt vor über hundert Jahren erlebt, erfühlt hat, entzieht sich letztlich auch der Kenntnis eines so talentierten Autors wie Robert Seethaler.

„Der letzte Satz“ ist voller melodiöser Sätze, ein traumschön komponiertes Werk

Als eine Möglichkeit, eine Version der Vergangenheit aber, die geprägt ist vom heutigen Verständnis unserer Welt, als Versuch also – lässt sich der Roman als ebensolcher genießen. Wenn Seethalers Musiker an Deck sitzt, mit einem Schiffsjungen plaudert und sich von der Schönheit des Sonnenaufgangs buchstäblich Tränen in die Augen treiben lässt, dürfen wir uns von diesem alternden Mann auf dem Meer durchaus berühren lassen.

„Der letzte Satz“ ist voller melodiöser Sätze, ein traumschön komponiertes Werk, melancholisch und tröstlich. Und ja, auch ein bisschen kitschig und gefühlig.

Robert Seethaler: Der letzte Satz. Hanser Berlin, 128 S., 19 €