Essen. Überraschung gelungen: Ohne Vorankündigung veröffentlicht Taylor Swift ihr neues Album „Folklore“ – und liefert damit ein wahres Meisterstück ab.
Was für ein Coup. Ausgerechnet Taylor Swift, die ihre Albumveröffentlichungen üblicherweise so präzise plant wie einen Militärschlag, nämlich mit versteckten, puzzleartigen Hinweisen in den sozialen Medien, auf die sich die Fans und 140 Millionen Instagram-Follower dann dechiffrierend stürzen, mit Musikvideos in der Qualität von Hollywoodfilmen und überhaupt mit gigantischem PR-Getöse, verkündete mal eben so mit weniger als 24 Stunden Vorlauf, dass sie am Freitag, 24. Juli, ihr achtes Album veröffentliche, „Folklore“ genannt. Die Nachricht saß.
Doch damit nicht genug der Überrumpelungen. Swift teilte ferner mit, dass sie elf der sechzehn Lieder gemeinsam mit Aaron Dessner, Komponist und Multiinstrumentalist der hochgeschätzten Indie-Rockband The National, produziert und geschrieben habe, die übrigen entstanden mit ihrem langjährigen Kollaborateur Jack Antonoff. Die ganze Platte sei in pandemiebedingter Isolation entstanden, alle waren gewissermaßen in ihren Homeoffices, respektive -studios. Und wie schnell das ging: Vor gerade einmal drei Monaten habe sich Swift bei Dessner, einem ihrer, wie sie sagt, „musikalischen Helden“ gemeldet, und der war natürlich entzückt. Wer hören kann, ist es auch. Denn „Folklore“ ist ein wirklich wahnsinnig schönes Album geworden. Und das ist dann wohl die größte Überraschung von allen.
„Folklore“-Albumcover mit Tannen und Nebel
Auf den Albumcover von „Folklore“ steht sie zwischen Tannen, es ist ein bisschen neblig. Waldbaden mit Taylor Swift also, das ist die Botschaft. Zurück zur Natur, zurück zum vermeintlich Simplen, zurück zu Harmonie, Seele und Gefühl. Überhaupt hört sich die ganze Platte an wie ein Barfußspaziergang über einen Nadelwaldboden. Warm, weich, wohlig, und nur ganz manchmal pikst es ein wenig. Tatsächlich klingt „Folklore“ herrlich nach Herbst und Melancholie, und das mitten im Hochsommer. So etwas entsteht also, wenn man keine Rücksicht mehr nehmen muss. Wenn man völlig frei arbeiten kann und quasi eh schon alles egal ist. Wenn man plötzlich ganz viel Zeit hat, weil die eigentlich für den Sommer geplante weltweite Stadion- und Festivaltour aus globalem Seuchengrund ausfällt, man auch nicht proben muss und sich dann einfach mal in aller Seelenruhe seinen Ideen widmen kann. Wenn man „alle seine Launen, Träume, Ängste und Überlegungen“ in neue Songs einfließen lässt, wie Taylor Swift es formuliert.
Das nur elf Monate nach Swifts in jeder Hinsicht pastellfarbenem „Lover“-Album veröffentlichte „Folklore“ ist zwar nicht das erste während des Corona-Lockdowns entstandene Album, aber es dürfte künftig als Standardwerk für diese noch sehr neue Kunstform gelten. Auf Taylor Swifts Pandemie-Poesie-Album gibt es keinen einzigen klassischen Knalleffekt, kein Refrain springt einen an wie ein ausgehungerter Tiger. Auf dieser Platte fehlt alles, was auch nur ansatzweise laut, aufdringlich und überzuckert klingt, was also viele sonst von Swifts oft plakativer Popkunst abschreckt.
Einst war Taylor Swift ein Countrymusik-Wunderkind
Sicher, Taylor Swift, die ja ursprünglich ein Countrymusik-Wunderkind war und erst mit Anfang 20 zum Großraumpop wechselte, konnte auch früher schon subtil sein, man denke an das dezente „The Archer“ vom letzten Album. Aber eine runde Stunde lang eine Indie-Electro-Streicher-Pedal-Steel-Gitarren-Pop-Ballade an die nächste zu reihen, das muss man sich ja auch erst einmal trauen, Corona hin oder her. Und Taylor traut sich.
Das Album beginnt bereits kontemplativ mit der hübschen Piano-trifft-Country-Pop-Nummer „The 1“ über einen aus den Augen verlorenen Liebhaber. Und so ruhig, gehaucht und zumeist im Folk-Pop angesiedelt geht es auch weiter. Wehmut, Sanftheit und viel Gefühl sind Trump, „Folklore“ steht dem Werk einer Lana del Rey deutlich näher als dem einer Katy Perry. Mal steht die Geige stärker im Vordergrund („Seven“), mal die Gitarre („Mirrorball“), mal das Klavier („Mad Woman“) und einmal sogar die Mundharmonika („Betty“). In „Exile“ sorgt Gesangs- und Komponistenpartner Justin Vernon alias Bon Iver für zusätzliche Introspektion. Zum Glück fehlen trotz der dezenten Grundstimmung die feinen Melodien nicht. „Folklore“ ist zwar ein nerdiges, aber eindeutig kein sperriges oder unkommerzielles Album.
Auf Taylor Swifts neuen Album „Folklore“ hält verstärkt die Notalgie Einzug
Dass Taylor Swift nach turbulenten, auch durch Fehden, Missverständnisse und gescheiterte Liebschaften geprägten Jahren zur Ruhe gekommen ist, merkt man am deutlichsten an den Songtexten. Wut und Rachegefühle sind fast ganz verschwunden, nur im angenehm unbändigen „Mad Woman“ teilt Taylor noch aus (und zwar gegen die alte Plattenfirma, die ihr weiter die Rechte an den eigenen Songs verwehrt). Stattdessen hält verstärkt die Notalgie Einzug. Im folkigen „Seven“ trifft man die auf Bäume kletternde und trotzig herumschreiende siebenjährige, auf einer Farm in Pennsylvania aufgewachsene, Taylor. Die Single „Cardigan“ führt wie auch „August“ und „Betty“ zurück in die Gefühlswirren der Pubertät (wobei zumindest „Betty“ wohl der Phantasie entspringt, da aus der Sicht eines Jungen erzählt). Im wortreichen „The Last Great American Dynasty“ schildert Swift die Vita jener Ölmagnaten-Witwe, die einst in Swifts Anwesen in Rhode Island residierte, und im musikalisch vergleichsweise quirligen „Illicit Affairs“ („Was in schönen Zimmern begann, endet auf Parkplätzen“), lässt sich verfolgen, wie eine heiße Geheimliebe elend den Bach runtergeht.
Am allerbesten vielleicht lässt einen Taylor Swift die Aura dieses außergewöhnlichen Albums im vorletzten Song „Peace“ spüren. Hier malt sie mit zartem Pinsel ein realistisches Bild ihrer aktuellen Beziehung zum englischen Schauspieler Joe Alwyn, dem sie so einiges verspricht, bloß nicht, dass die Liebe allzeit in ruhigen Gewässern verlaufen wird. „Our coming of age has come and gone“ singt sie. Unser Erwachsenwerden kam und ging. Taylor Swift ist im vergangenen Dezember 30 geworden. So lange Erwachsensein sich anhört wie auf „Folklore“, lässt es sich wunderbar aushalten.