Essen. 500 Filmmusiken schuf Ennio Morricone - und viel mehr als nur die Western, die ihn berühmt machten. Jetzt starb er 91-jährig in seiner Heimat.

Beleidigt es einen großen Komponisten, wenn sein Werk es zum Klingelton gebracht hat? Kommt ganz auf den Besitzer des Telefons an. Wer zum Beispiel den amtierenden Intendanten der Hamburger Elbphilharmonie anruft, löst bei Christoph Lieben-Seutters Smartphone die Melodie von „The Good, the Bad and the Ugly“ aus: eine Flöte, die einsetzt wie eine heisere Prärie-Eule, dann die kojotenhafte Antwort einer quäkenden Mundharmonika. Martialisch stampft die Perkussion im Wüsten-Szenario, ehe menschliche Lippen zu pfeifen beginnen, das Mundharmonika-Motiv mit kaltschnäuziger Gelassenheit übernehmend.

Selbst wer „Zwei glorreiche Halunken“ (welch scheußliche Übersetzung des oben genannten Filmtitels) nie gesehen hat, wird diese Melodie mühelos singen können. So wie die großen Motive des Kino-Kunstwerks „Spiel mir das Lied vom Tod“ seit 1969 die gefühlten Kino-Charts nie verlassen haben. Damals kauften die Deutschen sie zigtausendfach als Single. Ennio Morricones Filmmusik für Sergio Leones episch-komplexen Italowestern war so gut – man lauschte ihr pur. Vielleicht dachten die Frauen heimlich an Charles Bronson, den Mann, der für die Kamera die Mundharmonika gespielt hatte.

Ennio Morricone ist tot. Der Komponist schrieb Musik für 500 Filme

Solche Geniestreiche – und dies waren gerade mal zwei von etwa 500 Filmkompositionen, die auf Morricones Konto gingen – fußten auf einem klassischen Fundament. Er ist gerade mal 18, da hat er ein Konzertdiplom als Trompeter in der Tasche. Ein paar Jahre später setzt er noch ein Diplom drauf, diesmal als Komponist. Ausgebildet hat ihn eine der ältesten Musikhochschulen der Welt, die einst von Päpsten gegründete Accademia Nazionale di Santa Cecilia. Schon das ist ein Ritterschlag. Ennio Morricone wird 1928 direkt am Tiber geboren, Roms damals noch wildwüchsiges, touristisch nicht ausgeschlachtetes Arbeiterviertel Trastevere ist seine Heimat, eher rau und sehr laut.

Auch Geräusche wurden bei Morricone Teil der Partitur

Vielleicht liegt schon hier die Wiege für jenes Markenzeichen, das ihm große Erfolge schenkte: Etwas muss kein Instrument sein, um zu Musik zu werden. Ein zischender Dampfkessel, ein gellender Pfiff, das Ticken einer Uhr, das enervierende Quietschen eines Windrades – Morricone, der vor der Filmkarriere mit sinfonischer Avantgarde begonnen hatte, schuf in seinen Filmen damit eine Legierung von Alltag und Überhöhung, die dem Wesen von Kino perfekt entsprach. Dabei war er auf seine Weise ein Unzeitgemäßer. Als alle Welt erst auf Big Band, dann auf Synthesizer setzte, kannte er kaum Zweifel am großen Orchester als idealem Partner des Kinos. Opernhafte Opulenz (an der Kitschgrenze das Sopransolo in „Spiel mir das Lied...“) konfrontierte er mit extrem ausgedünnten Kompositionen, denn Morricone wusste auch um die Macht der Stille. Und er nahm sich die ganz Großen zum Vorbild: Wie er Figuren fein gearbeitete, individuelle Themen zuschrieb, da war er Wagners Leitmotiv-Technik ganz nah.

Nicht die Tatsache, dass ihn so viele allein mit seinen 30 Western-Vertonungen in Verbindung brachten, konnte den zarten Mann mit der großen Hornbrille schäumen lassen; aber dass sie von „Spaghetti-Western“ sprachen, das verletzte den Italiener. Mehr noch aber die Tatsache, dass der größte Filmpreis Hollywoods 50 Jahre lang an ihm vorbei ging. Fast 80 war er, als es den Ehren-Oscar gab. Clint Eastwood übersetzte die Dankesworte Morricones: Auch nach einem halben Jahrhundert im Filmgeschäft war dessen Englisch so mies, dass es für eine fließende Rede nicht taugte. Überhaupt Hollywood: Selbst eine Villa (Teil eines Vertrags) in Kalifornien wollte er nicht, kommentierte die Offerte mit einem Witz: „Der denkt, wenn er mir eine Villa gibt, muss er mir weniger zahlen.“

Morricone schuf fürs internationale Kino, in Hollywood wohnen wollte er nicht

Darauf angesprochen, wie er sich der Überreichung seiner zweier Oscars (den für eine eigene Filmmusik erhielt er für Tarantinos „Hateful Eight“ mit 88!) erinnere, grollte er: „Ich erinnere mich besser daran, wie ich ihn nicht bekommen habe“.

Tatsächlich fühlte Morricone sich mehr als einmal unterschätzt und verkannt. Ein Komplex? Es deckte sich jedenfalls wenig mit der Realität einer enormen Fan-Gemeinde, unzähligen internationalen Auszeichnungen, etwa 50 Millionen verkauften Alben, weltweit respektierten Aktivitäten als Dirigent und eine Wirkmacht, die Musiker von Quincy Jones bis Metalllica Anlass gab, sich vor ihm zu verneigen.

Morricones Gabe in der Filmmusik war von verschwenderischer Bandbreite. Die Elegie eines „Cinema Paradiso“ besang sie nicht weniger differenziert als sie in den „Unbestechlichen“ einer nervösen Mafiosität den Puls fühlte. Seine Kunst, unverkennbar zu sein und doch immer Einzigartiges zu schaffen, ließ in ihrer Magie bis ins Alter nicht nach.

Ennio Morricone ist am Montag, wenige Tage nach einem Oberschenkelbruch, 91-jährig in Rom gestorben. Wenn wir an ihn denken, dann an den Mann, dem unsere Ohren selbst dann noch großes Kino verdankt hätten, wenn der Film gerissen wäre.

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GROßE FILME, GROßE WEGGEFÄHRTEN

Sergio Leone, mit dem Ennio Morricone große Filme ( „Für eine Handvoll Dollar“, „Spiel mir das Lied vom Tod“, „Es war einmal in Amerika“) gemacht hat, war ein Schulkamerad des Komponisten.

Weitere berühmte Beispiele aus dem riesigen Schaffen Morricones sind Musiken zu Terence Malicks „In der Glut des Südens“ (1978), Roland Joffes „Mission „ (1986) und Giuseppe Tornatore „Die Legende vom Ozeanpianisten“ (1998).

Als Komponist zeigte sich Morricone immer wieder auch abseits des Films. Eine von ihm geschaffene Messe widmete er dem amtierenden Papst, die „Missa Papae Francisci“.