Berlin. Judith Holofernes, M.I.A, die Einstürzenden Neubauten: Künstler entdecken mit der Plattform Patreon ein neues Bezahlmodell – gerade in der Krise.

Für Judith Holofernes passten die alten Strukturen irgendwann nicht mehr, also hat sie sich neue gesucht. „Ich habe mich immer schon für Themen interessiert, die in Konflikt standen mit einer ganz normalen Mainstream-Popkarriere“, so die 43 Jahre alte Sängerin und Künstlerin. „Über die Jahre hat es unterschiedlich doll gequietscht. Ein Plattenvertrag beinhaltet immer auch das Einverständnis, dass man zu Kompromissen bereit ist und es irgendwie akzeptiert, ein käufliches Produkt zu sein.“ Sie habe das Spiel lange mitgespielt, „doch es gab mehr und mehr Situationen, in denen ich merkte, ich mache es mir durch meinen Eigensinn und meinen Freiheitsdrang selbst immer schwerer.“

Im November 2019 steigt Judith Holofernes, die mit ihrem Mann, dem Schlagzeuger und Produzenten Pola Roy sowie den zwei gemeinsamen Kindern in Berlin-Kreuzberg lebt, aus der klassischen Album-Tour-Album-Vermarktungs-Mühle aus. Nach vier Alben als Frontfrau und Aushängeschild der 2000 gegründeten Indie-Pop-Band Wir Sind Helden (in der auch Roy mitspielte), zahlreichen klugen Hits und nicht selten gesellschaftskritischen wie „Denkmal“ oder „Müssen nur wollen“, zwei Soloplatten sowie 2018 noch der Teilnahme an „Sing meinen Song“ räumt Holofernes – zumindest vorerst – die große Bühne. Sie verkündete ihren Rücktritt. Aber nicht etwa von der Kunst als solcher, sondern nur vom „Karriereaspekt des Holofernes-Seins“.

Patreon ist eine Social-Payment-Plattform und gerade immens im Kommen

Judith Holofernes hat sich für ihr vielfältiges Schaffen, für ihre Lust auch am Skurrilen, Sperrigen, nur schwer bis gar nicht zu Geld machenden vielmehr eine neue Behausung gesucht: Sie ist jetzt auf Patreon. Und kann, wie sie sagt, dort endlich, ganz ohne Druck und ohne Leute, die ihr reinreden wollen, tun und lassen, was sie will.

Patreon ist eine Social-Payment-Plattform und gerade immens im Kommen. Kunstschaffende und Kreative jeglicher Couleur – Musiker, Illustratorinnen, Maler, Podcasterinnen und so weiter – bieten ihre Werke auf Patreon an. Mehr als 150.000 sogenannte „Creators“ treffen hier auf fünf Millionen Patrons – das sind die Menschen, die willig sind, monatlich feste Beträge in ihre Lieblingskünstlerinnen und – künstler zu investieren.

Erfinder, Co-Gründer und CEO von Patreon ist Jack Conte, ein Musiker aus San Francisco. Conte, so geht die Entstehungserzählung, drehte einst ein Video, das ihn 10.000 Dollar kostete und auf Youtube schnell mehr als eine Million Mal angeschaut wurde. Doch als er seine Abrechnung bekam, so erzählte er jüngst dem Magazin „brandeins“ erschrak er. „Mein Anteil an den Werbeeinnahmen betrug genau 166 Dollar“. 2013 war das. Conte schuf mit „Patreon“ gewissermaßen eine Lösung für sein eigenes Problem, nämlich eine Plattform, auf der Künstler nicht – wie etwa auf Youtube oder Spotify - mehr schlecht als recht an den Werbeeinahmen beteiligt werden. Sondern ihre stabilen und festen Einnahmen direkt und regelmäßig von ihren Anhängern bekommen – und abhängig vom gewählten Servicepaket fünf bis zwölf Prozent davon an Patreon zahlen.

Die Plattform sieht sich als Mittelding zwischen Crowdfunding und Mäzenatentum

Die Plattform kommt ohne Werbung aus und sieht sich als ein Mittelding zwischen Crowdfunding (bei dem oftmals recht viel Geld für ein bestimmtes Projekt, etwa eine Albumaufnahme, gesammelt wird) und Mäzenatentum. „Für die Kreativen sind die Einnahmen extrem gut kontrollierbar und kommen einem Grundeinkommen sehr nahe“, sagt Ronny Krieger, 46. In einigen Fällen kämen auch Erträge im fünf- bis gar sechsstelligen Bereich zustande. Krieger ist ein alter Haudegen im digitalen Musikgeschäft, hat schon diverse Start-Ups angeschoben und beraten, ist stellvertretender Vorsitzender des VUT (Verband unabhängiger Musikunternehmen) und absolviert in seiner Freizeit gern „Tough Mudder Races“, das sind Extremhindernisläufe in der Natur. Ein Mann mithin, der keine Herausforderungen scheut. Nun leitet er die im Februar 2020 eröffnete und in Berlin ansässige Europa-Dependance von Patreon und sagt: „Wir brauchen in der Kreativszene unbedingt faire Verdienstsysteme. Lady Gaga oder Drake kommen mit Spotify und Youtube super zurecht, aber 99,9 Prozent der Künstler verdienen dort nicht genug, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten.“

Jack Conte habe das künstlerfreundliche Patreon als Gegenentwurf zu den Branchenriesen kreiert. Das Grundziel der Firma, behauptet Ronny Krieger, sei nicht, möglichst viel Geld zu verdienen. Sondern möglichst viel Geld an Kreative auszubezahlen. Insgesamt sei bislang schon mehr als eine Milliarde US-Dollar an die Creators geflossen. Krieger: „Wir spüren immer deutlicher, dass es sehr viele Menschen gibt, die gerne für Kreativität Geld ausgeben, so lange es bei denen ankommt, bei denen es ankommen soll.“

Als das Elend mit Corona anfängt, ist Krieger erst wenige Wochen im Amt. Konzerte sind bereits seit Monaten verboten, und viele Musiker, für die das Livegeschäft das entscheidende Standbein ist, stehen finanziell plötzlich auf sehr wackligen Beinen. Seit März erfreue sich Patreon eines massiven Zulaufs speziell von Musiker*innen, ihre Anzahl habe sich nach Angabe des Unternehmens in den vergangenen drei Monaten verdoppelt.

Judith Holofernes: „Durch Corona fällt vielen Leuten auf, wie prekär dieser Beruf ist“

Judith Holofernes selbst ist seit November 2019 dabei. Die mediale Resonanz auf ihren Schritt war anfangs gering und hat zuletzt stark zugenommen. „Durch Corona“, so Holofernes, „fällt vielen Leuten auf, wie prekär dieser Beruf ist und wie dringend nötig Konzepte im Netz sind, die Künstler tatsächlich auch ernähren.“ Sie wurde durch ihre Musikerkollegin und Freundin Amanda Palmer auf Patreon aufmerksam. Palmer zählt zu den Pionierinnen alternative Online-Bezahlmodelle, war sehr erfolgreich im Crowdfunding und ist mit 15.000 Abonnentinnen und Abonnenten eine der erfolgreichsten Creators überhaupt. Nach einem Berlin-Konzert pennte Palmer auf Judiths Sofa und überzeugte sie von den Vorzügen des Modells.

Holofernes gibt es also jetzt im Abo. Wie das konkret vonstattengeht? Wer fünf Euro im Monat bezahlt, bekommt von ihr beispielsweise Kapitel eines im Entstehen begriffenen autobiographischen Buches, neue Songs oder die frischen Folgen ihres Podcasts „Salon Holofernes“, auf dem Judith mit ausgewählten Menschen (wie ihrer eigenen Mutter, der literarischen Übersetzerin Cornelia Holfelder von der Tann) vornehmlich über das Kunstmachen als solches spricht. Für zehn Euro kann man zudem an „allgemeinen Fragestunden“ zu Holofernes faszinierenden Themen wie „Musikerberuf“, „Meditation“ und „Nichtstun“ teilnehmen, das „Vollmeisen-Abo“ schließlich kostet 100 Euro im Monat. Dafür gibt es jährlich auch ein handgemachtes Kunstwerk von Judith selbst. „Patreon ist genial“, begeistert sie sich. „Für die Art und Weise, wie ich als Künstlerin funktioniere, passt ein Abo-Modell perfekt. Ich will immer kreativ sein, mich aber in meinem Tun nicht einengen lassen.“

Auf Patreon arbeitet Judith Holofernes innerhalb einer Art Schutzzone. Ihre Kunden stehen ihr und ihren Kunstwerken naturgemäß wohlgesonnen gegenüber, sonst würden sie wohl kaum Geld dafür ausgehen. Sie kann neue Projekte testen, auch mal Schnapsideen umsetzen, im besten Sinne Unsinn treiben. Allerdings, und auch das gehört zur Wahrheit, kann sie sich dieses Arbeitsmodell auch leisten. Holofernes hat mit Wir Sind Helden gut verdient, bis heute kommen Tantiemen rein. „Das Geld hat mir den Übergang in ein freieres Künstlerleben sehr viel einfacher gemacht.“ Das Geld ihrer Abonnenten (wie viele sie bislang um sich gescharrt hat, verrät sie nicht) wiederum reiche aktuell aus, um ihr eine Assistentin sowie die „Arbeitswohnung“ zu bezahlen, zum Lebensunterhalt trägt es noch nicht bei.

Die Einstürzenden Neubauten haben sich fürs neue Albums bei Patreon angemeldet

Ohnehin eignet sich Patreon, das sich, wie Ronny Krieger elegant formuliert „auf dem Weg zur Profitabilität“ befinde, nicht für jeden. Es ist hilfreich, sich bereits einen Namen gemacht und über einen ordentlich tiefen Pool an potentiell Interessierten zu verfügen. Für Newcomer taugt die Plattform also nicht. Optimal ist sie hingegen für querköpfige Musikerinnen wie M.I.A., die auch als politische Aktivistin und Malerin sehr emsig ist, die bekannte, aber für den Massenmarkt zu unangepasste englische Singer/ Songwriterin Kate Nash oder eine seit Jahrzehnten in der Nische erfolgreiche Band wie die Einstürzenden Neubauten aus Berlin. Die Männer um Blixa Bargeld, schon lange von der klassischen Musikindustrie unabhängig, haben sich für die Finanzierung ihres aktuellen Albums „Alles in Allem“ ebenfalls auf Patreon eingefunden und hoffen nun, dass sie ihre Abonnenten/Unterstützter aus aller Welt alsbald wie versprochen zur, ursprünglich für den April geplanten, großen Berlin-Rundfahrt nebst Abschlusskonzert im Gendarmenhaus einladen können.

Für Judith Holofernes fühlt sich das neue Kreativleben fast wieder so an wie ganz am Anfang, nämlich „sehr schön, jungfräulich und neu.“ Ihren Halbrücktritt habe sie jedenfalls nicht bereut. „Ich habe mir immer gewünscht, arbeiten zu können, ohne ständig irgendwie in der Öffentlichkeit sichtbar sein zu müssen. Vielleicht erreiche ich durch genau diesen Text hier drei, vielleicht auch zehn Menschen, die jetzt neugierig geworden sind. Die sind für mich aber viel wertvoller als all die zufälligen Kontakte, die es früher gab.“

Und falls Holofernes noch jemand wirklich sehr Extravagantes auf Patreon unterstützen möchte, sei ihr jener Mensch empfohlen, der – wie Ronny Krieger berichtet - Unterwasserhäuschen für Hamster baut und in niedlichen Filmen zeigt, wie die Tierchen sich in diesem aquarienartigen Umfeld zurechtfinden, nämlich unerwartet gut.