Essen. „Olive Kitteridge“,, „The Handmaids Tale“: Streamingdienste entdecken mit Literaturadaptionen das Prinzip Serie (fast) ganz neu.
Die meisten Neuigkeiten waren schon mal da. Charles Dickens’ „Oliver Twist“, Oscar Wildes „Dorian Gray“, Lew Tolstois „Anna Karenina“: Die Klassiker von heute waren die Serien von einst. Der „Feuilletonroman“ in der Zeitung bot Autoren im 19. Jahrhundert eine sichere Einnahmequelle – und prägte einen Spannungsbogen von Kapitel zu Kapitel. Oft waren die ersten Seiten schon gedruckt, aber das Ende noch nicht geschrieben: Literatur auf Bestellung (heute: on demand).
Regisseur Martin Scorsese dreht seinen neuen Film bei Apple TV – mit Robert De Niro
Wenn nun Streamingdienste wie Netflix, Hulu und Apple TV der Hollywood’schen Traumfabrik den Rang ablaufen, geht es ebenfalls um Geld. Netflix lässt sich Serien wie „The Crown“ bis zu 130 Millionen Dollar kosten – pro Folge! Im Mai hat Star-Regisseur Martin Scorsese, der zuletzt „The Irishman“ bei Netflix produzierte, sein nächstes Projekt bei Apple TV untergebracht – weil kein Hollywood-Studio Produktionskosten von über 200 Millionen Dollar tragen wollte. Dafür bringt Scorsese immerhin Leonardo DiCaprio und Robert De Niro als Hauptdarsteller für seinen Film „The Killers of the Flower Moon“ mit – alleine 55 Millionen Dollar kosten die drei Stars.
Allerdings: Die hohen Schauspielergagen sind Einmalzahlungen. Das ist anders als bei Kinofilmen, die durch Lizenzverkäufe weltweit noch Jahre später auf den Schauspielerkonten zu Buche schlagen. Legendär ist der Deal, den einst Tom Hanks für „Forrest Gump“ aushandelte: Er verzichtete ganz auf seine Gage, um die Produktionskosten niedrig zu halten – nahm aber allein durch seine spätere Gewinnbeteiligung 60 Millionen Dollar ein.
Eben dieser pfiffige Tom Hanks mischt jetzt als Produzent von innovativen Streaming-Formaten kräftig mit, die auf gedruckten Bestsellern beruhen. Gemeinsam mit Steven Spielberg produziert er die Serie „Masters of the Air“, die Apple TV in den brandneuen eigenen Studios drehen lässt. Auch bei der HBO-Serie „Olive Kitteridge“ mit Oscar-Preisträgerin Frances McDormand war er als Produzent mit an Bord: Mit Preisen überhäuft, ist die Serie Teil eines Reigens von Literaturverfilmungen, mit der die Streamingdienste ein weibliches Publikum gewinnen wollen – und eine künstlerische Wechselwirkung von Film und Literatur befeuern.
Serien wie „Olive Kitteridge“ zeigen, wie Film und Literatur sich befeuern können
Für den Roman „Olive Kitteridge“ (deutsch: „Mit Blick aufs Meer“) erhielt Schriftstellerin Elizabeth Strout 2009 den Booker Preis, jetzt schrieb sie das Drehbuch – entstanden ist ein Vierteiler, der die Romanhandlung auf grandiose Weise verdichtet. In diesem Jahr erschien ein weiterer Olive-Kitteridge-Roman („Die langen Abende“). Ist es Zufall, dass die Protagonistin nun mit ihrem Nachbarn Jack anbandelt – der in der Serie von Bill Murray gespielt wurde? Fortsetzung folgt!
Sehr kreativ und frei ging Streamingdienst Hulu mit der Romanvorlage „Kleine Feuer überall“ von Celeste Ng um: eine der Protagonistinnen ist nun nicht mehr Weiße, sondern Afroamerikanerin. Celeste Ng findet das gut: Sie ist neben Schauspielerin Reese Witherspoon, die hier an ihren Erfolg „Big Little Lies“ anknüpft, eine der Produzentinnen der Serie. Auffällig ist, wie sehr die Spannungsbögen der Literaturserien sich ähneln: Zwar gibt es noch Cliffhanger am Ende jeder Folge, der Auftakt zur Serie aber – der Brand in „Kleine Feuer“, der Mord in „Little Big Lies“ oder der (geplante) Selbstmord in „Olive Kitteridge“ – lässt die Zuschauerin bis ganz zum Ende rätseln.
Margaret Atwood schrieb Fortsetzung von „Der Report der Magd“ mit Blick auf die Serie
Ausgerechnet eine 80-Jährige treibt die neue Symbiose von Wort und Bild auf die Spitze: Schriftstellerin Margaret Atwood, die fleißig twitternde Grande Dame der kanadischen Literatur, hat begleitend zur HBO-Serie „The Handmaids Tale“ mit Elizabeth Moss in der Hauptrolle eine Fortsetzung ihres Romans „Der Report der Magd“ geschrieben: „Die Zeuginnen“. Und sich dabei von der Serie so inspirieren lassen, dass HBO den Roman gleich als Vorlage für weitere Folgen eingekauft hat. Literatur on demand – mit den Mitteln des 21. Jahrhunderts.