Essen. Neil Youngs neues Werk „Homegrown“ lag seit den 70ern im Keller: Zwölf Songs, die von Trennung und Schmerz künden – und jetzt endlich zu hören.

Neil Youngs neues Werk „Homegrown“ ist ein altes, aber unerhörtes: Nach dem Mega-Erfolg seines heutigen Klassikers „Harvest“ aufgenommen zwischen Dezember 1974 und Januar 1975, abgemischt, auf Stereo-Masterband übertragen – alles war fertig zur Veröffentlichung. Nur Neil Young nicht: „Ich konnte mir die Platte nicht anhören“, erinnert er sich. „Ich wollte sie hinter mir lassen, hielt sie unter Verschluss, tief in Kellergewölben, im Hinterstübchen meines Kopfes. Sie war einfach zu schmerzhaft.“

Man verfällt glatt in Sorge um den guten Mann, angesichts dieses Lamentos. Damals, vor gut 45 Jahren, war gerade seine Liebe zu der Schauspielerin Carrie Snodgress in die Brüche gegangen. Die Trennung von der Mutter seines Sohnes Zeke nagte so schwer an Young, dass er seiner Verzweiflung in 12 Songs hemmungslosen Lauf ließ.

Viel lebhafter als das, was auf „Harvest“ folgte

Trauerbewältigung spielt im Gesamtwerk des nunmehr 74-Jährigen zwar immer mal wieder eine Rolle, einen komplette Satz Seelenpein-Lieder gab es von ihm allerdings bislang nicht zu hören. Im Gegensatz zu den beiden Alben, „On The Beach“ und dem düsteren „Tonight’s The Night“, die auf „Harvest“ tatsächlich folgten, wirkt „Homegrown“ geradezu lebhaft. Musik, so scheint es, war in jener Dekade für ihn so überlebensnotwendig wie Sauerstoff.

„Seperate Ways“, der Eröffnungssong von „Homegrown“ beginnt mit einer schweren Bass-Note, deren Klang ungewollt verzerrt wirkt. Tatsächlich konnte Neil Youngs Tontechniker nicht schnell genug neues Bandmaterial einlegen, um dem Arbeitspensum seines Stars gerecht werden zu können. Young und seine Musiker spielten das Stück schon, als die Bandmaschine gestartet wurde. Heute würde man derlei Patzer digital nachbearbeiten. Young aber beließ die „Fehler“ auf seinen Aufnahmen. Zum Glück, sie bezeugen die Dringlichkeit, die Notwendigkeit dessen, was sich da im Studio ereignete. Dies ist nicht die Platte eines Emotionsdarstellers, sondern das Abbild eines gebrochenen Mannes.

Nicht einmal das Sonnenkind Emmylou Harris hellt die Musik auf

„Ich fühle mich jetzt besser, ein bisschen lebendiger, irgendwie“, singt er im Opener. Seine Stimme klingt dabei so, als ob er sich selbst davon überzeugen wollte. Schließlich bemüht er im Verlauf der Nummer die Mundharmonika als Verlängerung seines Gesangs, der wenigen Wörter, die er singt, schnell müde. „Homegrown“, das sind Momentaufnahmen, anders als Youngs große Aussagesongs. Kein sozialpolitischer Aufschrei wie „Ohio“, kein regierungskritisches „Rockin’ In The Free World“, das Donald Trump seit 2015 per einstweiliger Verfügung nicht mehr für Wahlkampfzwecke nutzen darf.

„Love Is A Rose“ klingt leicht wie ein Kinderlied. Nur begleitet von Akustikgitarre, Mundharmonika und Tim Drummonds Kontrabass, singt Young: „Liebe ist eine Rose, die man besser nicht pflückt. Sie wird nur groß, wenn sie ein Rankengewächs bleibt.“ Schweren Mut verkündet die Pedal Steel Gitarre zu schleppendem Tempo in „Try“. Die dunkle Ballade vermag nicht mal der Gesang von Strahlekind Emmylou Harris aufzuhellen. „Kansas“ ist klassischer Solo-Young: Einfach, direkt, aufrichtig, von sanftem Saitenanschlag und kleinen Mundhobel-Tönen getragen.

Kurzhörspiel mit Ben Keith und makabren Gesprächen

Das große Kuriosum der Platte ist „Florida“. Knapp drei Minuten lang bemühen Young und Gitarrist Ben Keith Pianosaiten und das Schwingen von Weinglasrändern für ein bizarres Hörspiel. Ein Segelflugzeug stürzt darin in ein Gebäude, tötet dabei ein Paar und deren Baby. Young unterhält sich dazu mit einem imaginären Schaulustigen.

Vielleicht war „Homegrown“ vor 45 Jahren gar nicht zu persönlich, sondern wegen der einen Ausnahme-Nummer zu bizarr und bedrohlich. Eine kostbarer Sonderfall im Schaffen des alten Recken ist die Platte trotzdem fraglos.