Essen. Jonas Kaufmann ist der Star in der Neueinspielung des anspruchsvollen Verdi-Klassikers mit Dirigent Antonio Pappano und Carlos Alvarez als Jago.

Es bedurfte nicht erst der Corona-Krise, dass Studioproduktionen großer Opern seit Jahren der Vergangenheit angehören. Angesichts der hohen Kosten haben sich längst günstigere Live-Mitschnitte durchgesetzt. Aber auch die sind in diesen kulturell ausgedünnten Monaten Mangelware. Mit professionellem marketingtechnischem Gespür stößt Sony jetzt mit einer Neueinspielung von Giuseppe Verdis „Otello“ in diese erfolgversprechende Lücke. Die Studio-Aufnahme eines attraktiven Werks mit Jonas Kaufmann in der Titelpartie wird ihr Publikum finden. Auch wenn sich Jonas Kaufmann mit der Rolle auf den, wie er es nennt, „Mount Everest“ des Verdi-Repertoires begibt, an dem nicht wenige seiner Kollegen gescheitert sind.

Mangel an Vorbereitung kann man dem Tenor nicht vorwerfen. Als er 2001 den Cassio sang, dachte er noch nicht daran, in absehbarer Zeit zur Titelrolle zu greifen. Mehrere Angebote schlug er aus und erst 2017, nachdem er sich alle großen Tenor-Rollen Verdis erarbeitet hat, wagte er in London das Rollen-Debüt. Unter der Leitung von Antonio Pappano, mit dem ihn eine enge künstlerische Freundschaft verbindet. Pappano dirigiert auch die in Rom mit dem Orchestra e Coro dell’Accademia Nazionale di Santa Cecilia entstandene Neueinspielung. Er bringt die seelischen Fieberkurven des Stücks musikalisch wesentlich prägnanter zum Ausdruck als die Sänger, Kaufmann eingeschlossen.

Plácido Domingo bestimmte das Rollenverständnis, Pavarotti wurde verrissen

Kaufmann reiht sich stimmlich in die Tradition ein, die Rolle mit einem baritonal gefärbten dramatischen Tenor zu besetzen. Damit bestimmte Plácido Domingo das Rollenverständnis der letzten Jahrzehnte. „Abweichler“ wie etwa Luciano Pavarotti mit seinem helleren, leichteren „Tenore Spinto“ mussten mit vernichtenden Verrissen leben, obwohl Verdi für die Uraufführung 1887 mit Francesco Tamagno selbst einen solchen Tenor engagierte.

Die Anforderungen der Rolle entsprechen denen von Wagners „Tristan“, allerdings zeitlich erheblich komprimierter. Dynamisch vom zartesten Pianissimo bis zum verzweifelten Fortissimo-Ausbruch, von einer exzellenten Legato-Kultur bis zu exponierten Spitzentönen und an Wahnsinn grenzenden dramatischen Exzessen fordert Verdi einem Sänger nahezu alles ab, was stimmlich überhaupt möglich ist. Und das in fliegendem Wechsel. Verbunden mit einer möglichst intelligenten Charakterisierung der schwierigen, zerrissenen Figur. Kaufmann erfüllt einige Anforderungen, aber längst nicht alle.

Herbert von Karajans „kontrollierte Ekstase“

Die Studio-Bedingungen nutzt er für eine sorgfältige Beachtung der Vortragsbezeichnungen. Allerdings konzentriert sich eine Audio-Version auf die stimmlichen Qualitäten. Etwaige Mängel lassen sich durch keine noch so starke Bühnenpräsenz kaschieren. Kaufmann orientiert sich in seiner Darstellung an Karajans Maxime der „kontrollierten Ekstase“. Probleme, die ein Regisseur lösen muss, etwa die Bedeutung der schwarzen Hautfarbe Otellos in der elitären venezianischen Gesellschaft, rücken an den Rand. Im Mittelpunkt steht das Psychogramm eines Emporkömmlings, der um die Brüchigkeit seines Status weiß und den diese Unsicherheit mit seiner Eifersucht gegenüber Desdemona in eine Katastrophe führt.

Im Gespräch wird Kaufmann deutlich: „Otellos Eifersucht ist pathologisch. Dank seiner Heldentaten hat er Desdemona heiraten dürfen, sie hat ihn in einen gesellschaftlichen Stand gehoben, den er als Nicht-Christ und Schwarzer nie erreicht hätte. Dennoch bleibt alles sehr fragil. Beim leisesten Zweifel an der Treue seiner Frau muss er um den Verlust seiner Ehre fürchten. Das treibt ihn in Aggression und Paranoia. Er steht unter psychischem Druck, wie ein Dampfkochtopf, der jederzeit explodieren kann. Aber auch im Piano implodiert. Für den Interpreten, der diesen psychischen Ausnahmezustand, diese Tragik wahrhaftig vermitteln will, ist es schwer, stimmlich dabei gesund zu bleiben. Das Stück geht einem wörtlich an die Nieren.“

Kein testosterongesteuerter del Monaco

Kaufmann gelingt es, die seelischen Irrwege stimmlich überzeugend zur Geltung zu bringen. Allerdings muss man sich mit seinem gutturalen, leicht gaumigen Ansatz anfreunden und einer begrenzten dramatischen Schlagkraft in Kauf nehmen. Die testosterongesteuerte Pose del Monacos ist seine Sache nicht, seine Darstellung bleibt auf dem Boden eines menschlichen Seelendramas. Was seiner Gestaltung an Differenzierung fehlt, das ergänzt Pappano mit seinem feurigen und instinktsicheren Dirigat lückenlos.

Die Fokussierung der Veröffentlichung auf den Tenor-Star lässt fast vergessen, dass sein Gegenspieler Jago absolut gleichwertig agieren muss. Carlos Alvarez stellt einen intelligenten, kultivierten, wenig dämonischen Bösewicht dar, Federica Lombardi eine sehr passive, brave Desdemona. Alle Protagonisten wirken ein wenig zahm. Dass Verdi diesen Rahmen sprengt, das wird vor allem durch das grandiose Dirigat Antonio Pappanos deutlich.

Pavarotti und Solti haben eine Chance verdient

Insgesamt ein interessanter, eher gediegener „Otello“ ohne besondere Überraschungseffekte. Die Aufnahmen mit Ramon Vinay, Jon Vickers oder Plácido Domingo ersetzen sie nicht. Und auch die vielgescholtene Einspielung mit Luciano Pavarotti unter Georg Solti verdiente eine unvoreingenommene Würdigung.