Marl. Ein junger Kinobesitzer aus Marl drängt auf den Popcornmarkt. Der war in Deutschland lange Zeit in festen Händen. Colin Germesin will das ändern.
Kulinarische Kulturfolger? Das Lachstartar zu Traviata und die Laugenbreze zum Bayreuther Lohengrin. Tauschen wir Opernloge gegen Kinosessel, führt das eher zum genüsslichen Griff in den Eimer: Popcorn. Dafür nutzen die meisten der 1300 Kinos in Deutschland die gleiche Quelle. Eine Stadt am Rand des Ruhrgebiets könnte das ändern. Das gallische Dorf unserer Geschichte ist Marl. Und der ein Stück ab haben möchte vom Geschäft mit dem geölten Puffmais, ist 25 Jahre alt: Colin Germesin.
Die Geschichte, in einen Markt einsteigen zu wollen, dem manche die Züge eines Monopols zuschreiben, beginnt im Frühling 2019: Germesin, den es irgendwie kitzelt, Dinge zu wagen, von denen er zunächst nicht viel versteht, hat erst kürzlich in seiner Heimatstadt mit seinem Kumpel Maximilian Meynigmann nach 13 kinolosen Jahren ein Lichtspielhaus gegründet. Es brummt!
Ein Kinobesitzer rechnet seine Kosten und staunt über die riesige Marge beim Popcorn
Dann aber kommt der Lenz. Und die Jungunternehmen machen aus der alten Kino-Gleichung „mehr Sonne, weniger Leute“ eine kleine Betriebsprüfung, „da haben wir eben an allen Stellschrauben gedreht vom Strom bis zum Getränk. Und da ist mir aufgefallen, dass bei den Snacks die Marge riesig sein muss, besonders beim Popcorn. Wir reden ja letztlich von Mais und Zucker und wissen aus jedem Aldi, dass das wenig kostet.“
Germesin fuchst sich ein. Als erstes geht ihm auf, dass es er beim Kino-Einkauf im Grunde keine Wahl hat. Der Markt war also verteilt? „Der Markt war gar nicht verteilt“, lacht Colin Germesin, „der war in einer Hand!“ Übersetzt: Schon Anfang des Jahrtausends fusionierten in Deutschland jene zwei Firmen, die in Sachen Kinofutter über 30 Jahre weitgehend ungestört regiert hatten. Womit Germesin in die Phase „David ärgert Goliath“ eintritt.
Colin Germesin importiert selbst Popcorn: Aus Marl gab es Mails an Farmer in aller Welt
Mit einer irgendwie entwaffnenden Art pfeift er auf alle Unternehmensberater und sucht: Mais! Germesins Ziel: 20 bis 30 Prozent unterm Mitbewerber zu liegen. „Ich hab’ Bauern der ganzen Welt angeschrieben, die Popcorn-Mais anbauen. Das waren 200 Leute, die haben alle ‘ne Mail aus Marl bekommen.“ Sinngemäß lautete die etwa so: „Wir sind die Leute von Snack Solutions. Können Sie uns mit gutem Popcorn-Mais beliefern?“
Sie konnten. Sie wollten. Zwischenzeitlich hatte Germesin zu 130 Bauern zeitgleich kontakt, „Australier, Südafrikaner“. Am Ende blieben 20 Proben aus aller Welt. Und – manchmal ist das Leben eben doch wie ein Drehbuch – das Rennen machte Hollywoods Heimatkontinent. Der Farmer, der Germesins „Snack Solutions“ beliefert, lebt in Kansas und heißt Bob!
Es war aber doch nicht ganz so leicht wie es klingt: „Ich hab’ spätestens durch das Popcorn-Projekt gelernt, dass wir bei Lebensmitteln in einem der sichersten Länder der Erde leben“, sagt Germesin, fand das nötige Lebensmittellabor und einen Fachanwalt für Lebensmittelrecht. Besser gesagt, einen, „der bezahlbar war – das ist ganz selten in dem Bereich.“
Das Projekt setzt auch auf Kunden: In Marl testeten Kinobesucher die Aromen fürs Popcorn
Das Ganze schulterte Germesin ohne Kredite. Statt Marketingtüftlern überließ er den Feldversuch in Sachen Aroma einfach seinen Besuchern in Marls Loe Studios . „Acht Eimer – und unser Team hat Strichlisten gemacht: Ältere mögen’s mit Butternote, die Jüngeren sind total Mandel-affin.“ Dann ist alles bereit, 15 Prozent des Marktes könnte er ab sofort beliefern. Erst glauben ihm Kinobetreiber die Preise nicht, aber als die Muster kommen, sagen sie: „Das machen wir!“
Und dann – kommt Corona.
Deprimiert? „Gar nicht“, sagt Germesin lächelnd im Klappstuhl auf jenem Marler Acker, den er jüngst als erster in Krisen-Deutschland zum Autokino erklärte (siehe Info-Box). Er sieht sein Projekt gelassen: „Wir haben super wenig Fixkosten, kein eigenes Lager“. Germesin nutzt die Zeit, tüftelt an einem weiteren zentralen Schlüssel, das Publikum zu füttern: Gerät! „Ich hab’ sechs Jahre Maschinenbau studiert und guten Kontakt zu Ingenieuren. Wir haben eigene Wärmeschränke entwickelt, eigene Popcorn- und elektrische Dip-Maschinen“ Alles, was dazugehört, soll am Ende aus Marl kommen. „Wir sind lange noch nicht am Ende!“
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PROJEKT AUTOKINO
Als der Lockdown die Kinogründer erwischt, reagieren sie flott. An der Stadtgrenze zu Haltern entsteht ihr Autokino.
Die Nachfrage überrascht sie. Autos kamen von Hamburg bis Bonn: „Wir dachten: Das müssen doch Dienstagwagen sein. Aber die sagten ,Wir kommen aus Hamburg!’ Die hatten einfach Bock auf den Event.“