Essen. Ein spannendes Thema in Zeiten gefährdeter Demokratien: Frank Dikötter forscht über Diktatoren. Ein Interview über Personenkult, Terror und Lügen.

Sein vielbeachtetes Buch hat einen fast schelmischen deutschen Titel: „Diktator werden“ – fast so, als handele es sich um eine Gebrauchsanweisung. Doch hinter Frank Dikötters acht großformatig erzählten Porträts von Diktatoren des 20. Jahrhunderts steht vielmehr eine Analyse des Systems aus Personenkult und staatlichem Terror. Lars von der Gönna sprach mit dem niederländischen Historiker.

Ihr Buch beschreibt die Abgründe und Extreme von Personenkult. Man kann die Aspekte von Charisma bis Rhetorik ausleuchten, aber fußen Diktaturen nicht im Wesentlichen auf Angst und Gewalt?

Dikötter: Sicher. Von Stalin über Mussolini bis zu Hitler lebte die Diktatur vom Geheimdienst, von einer brutalen Sicherheitspolizei, dem dauernden Verhör. Aber dabei darf man nicht übersehen, dass all das über die lange Strecke nicht genügt, Massen deinen Willen aufzuzwingen. Aus der Sicht des Tyrannen ist es gut, jede Straße zu überwachen. Besser ist es, jeden Verstand zu überwachen. Der Weg dahin geht über Kult, und die Kunst, Angst in die Köpfe zu pflanzen. Die großen Diktatoren haben das geschafft: Menschen bekamen Angst vor ihren eigenen freien Gedanken. Also mussten sie zeigen, wie sehr sie den Anführer bewunderten.

Sie porträtieren acht Führer. Eine Qualifikations-Schablone für den „Job“ erkennt man nicht...

Diktatoren waren einzigartige Individuen, die in einzigartigen Umständen wirkten. Allesamt waren sie talentiert, selbst wenn wir ihre Fähigkeiten vielleicht nicht mögen. Dazu gehört zu lügen, Leute zu manipulieren, ja selbst eigene Freunde zu beseitigen, sogar bevor man seine Feinde beseitigt. Vor allem aber besaßen sie alle die Gabe, nicht allein Erfolge sondern selbst widrige Umstände zu nutzen, um ihre Machtposition auszubauen.

Haben sie noch mehr gemein?

Gemeinsam haben sie, dass sie alle extrem getrieben waren, sehr hart an ihren Zielen arbeiteten und noch Schicksalsschläge wie etwa Attentate für sich zu nutzen verstanden. Allen gemein ist am ehesten die Isolation, die irgendwann einsetzt. Da die Macht nicht durch große Zustimmung zustande kommt, wächst die Furcht, sie zu verlieren. Ceausescu hat nicht einmal mehr Ärzte an sich herangelassen.

Zum Volk: Die Unsicherheit, wem man noch trauen kann, beschreiben Sie als Wesenszug der Diktatur. Wer von meinen Nachbarn heuchelt Begeisterung, um zu überleben? Wer, weil er tatsächlich fanatisch ist?

Damit sind wir im Herzen des Mechanismus. Das System polt jedem zu einem potenziellen Lügner um. Lügt Dein Kind? Dein Nachbar? Der einzige Weg, das auszuhalten, ist mitzumachen.

Wir haben in der Bundesrepublik noch reichlich Zeitzeugen für dieses Phänomen. Warum glauben Sie, tun sich manche einstigen Bürger der DDR so schwer, diesen Staat eine Diktatur zu nennen?

Eine Diktatur war die DDR, keine Frage, auch wenn mit Ulbricht und Honecker absolut keine Charismatiker an der Spitze standen. Aber zur Diktatur gehört mitunter auch, selbst ziemlich stumpfen Typen unentwegt Loyalität zu zeigen. Warum ehemalige DDR-Bürger nicht gern von Diktatur sprechen? Diktatur macht Menschen nicht nur zu Lügnern, sie macht sie auch zu Komplizen. Wenn du Nachbarn bespitzelst oder gegen deine Überzeugung öffentlich Staatsführern applaudierst, lebst du ein Leben lang in Täuschung. Und wenn all das, wie im Fall der DDR und in vielen anderen Diktaturen, plötzlich komplett zerbröckelt, dann ist es schwer, zurückzublicken und eine Wahrheit zu erkennen, in der nicht nur der Diktator eine Rolle spielt sondern auch du selbst. Dein Leben eine Lüge – wer will das zugeben?

Blicken wir auf Aktuelles. Erdogan nennen manche einen Despoten. Zynisch gefragt: Sind Journalisten im Gefängnis von Ankara schon der Beweis für eine Diktatur?

Eine sehr gute Frage. Wenn wir Diktatur als Monopol-Konstrukt nehmen, wird es bei Erdogan schwierig, sogar bei Putin. Wenn Ankaras neuer Bürgermeister Führer der größten Oppositionspartei ist, kann man nicht von Diktatur reden. Zugleich sehen wir, dass Erdogan ein zuvor weltoffene Türkei umzubauen versucht. Man könnte von De-Demokratisierung sprechen.

Wird es künftig mehr Mischformen geben?

Kombinationen sind selten. Eine schwache, ausgehöhlte Demokratie ist immer noch eine Demokratie. Weder Erdogan noch Putin waren bisher tatsächlich in der Lage, ein absolutes Machtmonopol zu erbauen. Vielleicht wollen sie es nicht, weil es ihnen so ganz gut passt. Aber vielleicht schaffen sie es auch nicht, selbst bei so schwachen demokratischen Strukturen.

Wird die Diktatur als Staatsform überleben?

Sie wird es schwerer haben. Selbst bei Hardliner-Systemen wie China spüren wir Aufbegehren. Im Moment haben wir eher eine panische Tendenz, Diktaturen zu sehen, wo gar keine sind. Aber wir werden Zeit brauchen bis zu ihrem Ende, in manchen Fällen kann es noch Jahrzehnte dauern – und selbst das ist nur eine Vermutung.

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Zur Person:

Der im niederländischen Kerensheide (Provinz Limburg) geborene Historiker Frank Dikötter forscht seit Jahren über totalitäre Systeme. Seine Untersuchung zur Person Maos und den Personenkult um den chinesischen Diktator (1893-1976) fanden weltweit Beachtung.

Für sein Buch „Maos große Hunger“ erhielt Dikötter als einer der ersten westlichen Historiker erhielt Frank Dikötter Zugang zu bisher geheimen Parteiarchiven und Dokumenten.

Ironie des Schicksal: Dikötter lehrt derzeit an einem Ort, dessen Demokratie extrem gefährdet scheint. Er hat eine Professur in Hongkong.