43 Minuten lang Beste-Laune-Pop: Lady Gaga ist auf ihrem neuen Album „Chromatica“ ganz die Alte – und liefert ein musikalisches Antidepressivum.
Endlich traut sich wieder jemand. „Chromatica“ ist die erste Albumveröffentlichung eines etablierten internationalen Superstars seit der Eskalation der Corona-Epidemie. Die Augen und Ohren der Welt dürften auch deshalb in diesen Tagen auf Lady Gagas sechstes Werk gerichtet sein. Aber was taugt das Album als solches?
Die Kernbotschaft von „Chromatica“ ist in einem Satz übermittelt. „Ich will, dass die Menschen tanzen und glücklich sind, wenn sie diese Songs hören“, lässt Lady Gaga, 34, im Interview mit „Apple Radio“ wissen. Sie sei sich bewusst, dass die Zeiten keine leichten sind, ursprünglich hätte „Chromatica“ ja auch bereits im April rauskommen sollen, in der grassierenden Pandemie-Panik hielt Gaga ihr Pulver jedoch lieber trocken. Doch sechs, sieben Wochen später gilt erst recht: So einen Stimmungsaufheller, den kann die ganze Welt verdammt gut gebrauchen. „Chromatica“ ist das musikalische Antidepressivum des Sommers, der Glücksfilter auf unserer beunruhigenden Gegenwart.
Die Dance-Pop-Queen hat stilistisch wieder nach Hause gefunden
Gaga ist wieder Gaga. Aber sowas von. Schon auf der Vorab-Single „Stupid Love“ klang sie ja so wie früher. Die Dance-Pop-Queen, künstlerisch groß geworden auf Manhattans Lower East Side, hat stilistisch also wieder nach Hause gefunden. Zuletzt hatte sich Lady Gaga das eigene Spektrum ja entscheidend erweitert und ihren Drang zur permanenten Neuerfindung gründlich ausgelegt. Ein Duett-Album mit Tony Bennett („Cheek To Cheek“, 2014), das unterschätzte leise Cowboy-Hut-Album „Joanne“ (2016), das Oscar- und Grammy-dekorierte Rockballadendrama „A Star Is Born“ (2018) mit dem Meisterwerksong „Shallow“ – Gaga hat alle Zweifel daran, dass sie ihre Karriere eher auf 50 als auf fünf Jahre ausgelegt hat, ausräumen können. Ihr Stern strahlt vielleicht heller als je zuvor.
Die Rückbesinnung auf die Wurzeln ist somit strategisch vernünftig, aber nicht ohne Risiko. Was, wenn sie hinter die Brillanz von „A Star Is Born“ zurückfällt? Doch die Ernüchterung bleibt aus. Die Reise auf den Planeten „Chromatica“ kann man beruhigt buchen. Denn wer 2008, als Gaga, die eigentlich Stefani Joanne Angelina Germanotta heißt, schlagartig und mit einer Kette von Monsterhits („Just Dance, „Poker Face“, Paparazzi“, „Alejandro“) zum nicht nur erfolgreichsten, sondern auch innerhalb des Mainstream originellsten Popstar der Welt wurde, schon begeistert von ihr war, der wird „Chromatica“ hören und sich denken: Endlich.
13 Songs sind dafür designt, Leben und Bewegung in die Bude zu bringen
Natürlich ist es höchst schade, dass die Clubs immer noch alle geschlossen haben. Diese – abzüglich dreier Zwischenspiele – 13 Songs sind wirklich ohne eine einzige Ausnahme dafür designt, Leben und Bewegung in die Bude zu bringen, die Menschen in Ekstase und in eine Art Dancefloor-Dauereuphorie zu versetzen, aus der man dann schwitzend, vor Glückseligkeit glucksend und vielleicht auch ein paar Rührungstränen verdrückend (denn Ausgelassenheit und Tieftraurigkeit schließen sich auf dieser Platte keineswegs aus) nach 43 Minuten wieder erwacht. Aber so geht man nun vorerst daheim dazu senkrecht.
Das prägende musikalische Element auf „Chromatica“ ist die House Music. Neben BloodPop (Haim. Justin Bieber, Post Malone) und Gaga selbst zählt Axwell von der Swedish House Mafia zu den federführenden Produzierenden. Wer die Neunziger miterlebt hat, dem wird hier so einiges liebevoll vertraut vorkommen: Der flächendeckende Einsatz des Synthesizers, die verhältnismäßig introvertierten Strophen, die sich immer wieder explosionsartig in riesigen Refrains entladen, diese grundlegende Hymnenhaftigkeit mit inklusiven „In unserem Inneren sind wir alle gleich“-Botschaften (aus „1000 Doves“), dank derer Gaga sich höchster Wertschätzung gerade auch in der LGBTQ-Szene erfreut.
Der Künstlerin dient ihr Album „Chromatica“ nicht zuletzt als Trauma-Therapie
Es gibt ein paar Songs, die hervorstechen. Allen voran gleich zu Beginn „Alice“ („Mein Name ist nicht Alice, aber ich werde immer nach dem Wunderland suchen“ singt Gaga). Das Stück fließt förmlich dahin, viel überzeugender und Endorphine ausschüttender kann Pop kaum sein. Dass Lady Gaga in „Alice“ ihre Depressionen thematisiert, gibt dem Song auch inhaltlich eine Tiefe, die man in den Charts nicht allzu oft findet. Ohnehin dient der Künstlerin „Chromatica“ nicht zuletzt als Trauma-Therapie. Die bis zu einem psychischen Zusammenbruch mit folgender Therapie im Jahr 2013 unverarbeitete Vergewaltigung mit 19, die chronischen, wohl psychisch bedingten, Ganzkörperschmerzen, an denen sie immer noch, aber nicht mehr ganz so extrem wie vor einigen Jahren, leidet, das ambivalente Verhältnis zum Ruhm (in „Fun Tonight“ reimt sich „fame“ auf „pain“) – es kommt alles zur Sprache.
Aber auch Positiva wie Zusammenhalt, Wärme und Solidarität unter (vermeintlich konkurrierenden) Frauen (die aktuelle, tief in French-House-Elemente getunkte Single „Rain On Me“ ist ein Duett mit Ariana Grande) und Widerstandsfähigkeit, Durchhaltevermögen, neudeutsch Resilienz sowie das Nicht-nötig-Haben eines Mannes an ihrer Seite („Free Woman“) sind Themen auf dem neuen Planeten Gaga. Der Nachteil an diesem elektropoppigen Soundinferno ist allerdings dessen relative Gleichförmigkeit, fast ist man geneigt zu sagen: Eintönigkeit. Ähnlich wie bei einem DJ-Set geht eine Nummer in die nächste über, immer House, immer Disco, immer sind die Klangfarben grell und die Schattierungen ausschließlich inhaltlicher Natur.
Der große, alte Gaga-Mentor Elton John fügt sich der Herrschaft des Beat-Gewitters
Auch die K-Pop-Girls von BLACKPINK (in „Sour Candy“) und sogar der große, alte Gaga-Mentor Elton John („Sine From Above“) fügen sich der Herrschaft des unaufhaltsamen Beat-Gewitters. Hier und da eine feine Ballade hätte dem Album, Kombinationskonzept aus Futurismus und Vergangenheitsbewältigung hin oder her, nicht geschadet. Und dass „Babylon“, der Schlusspunkt der Platte, nun wirklich so klingt wie ein Update des bald 30 Jahre alten „Vogue“, wird den Vorwurf, Lady Gaga sei zuvorderst eine raffinierte Madonna-Kopie fürs 21. Jahrhundert, nun auch nicht gerade entkräften können.