Essen. Es ist ein Dilemma, aus dem es nur Notausgänge gibt: Die Zeit, die Wissenschaft für Wissen braucht, hat die Politik, die entscheiden muss, nicht.

Am Mittwoch erst wurde bekannt, dass die gängigen Sars-CoV-2-Tests mit dem Kürzel PCR zu mindestens 20 Prozent falsche Ergebnisse anzeigen, wenn er negativ ausfällt: Der Test erkennt in diesen Fällen keine Erkrankung, obwohl die Infektion schon eingetreten ist, was gerade im Frühstadium gilt, wenn auch noch keine Symptome auftreten. Man mag beklagen, dass dieses Forschungsergebnis der Johns-Hopkins-Universität, die mit Anschwellen der Corona-Pandemie immer häufiger richtig geschrieben wurde, die Menschen geradezu unverantwortlich verunsichert. Ja am Ende halten solche Forschungsergebnisse Menschen vielleicht sogar von Tests ab, „weil sie ja eh keine Sicherheit bringen“.

Das mag schwer zu ertragen sein, aber das ist Wissenschaft. Darin kann alles als richtig gelten, was aus nachvollziehbaren Beobachtungen abgeleitet worden ist – und bislang nicht widerlegt. Mit Betonung auf bislang. „Wissenschaft ist Irrtum auf den neusten Stand gebracht“, soll der zweifache Nobelpreisträger Linus Pauling gesagt haben. Das heißt: für das Wissen, das die Forschung schafft, gilt: Die Erkenntnis von heute kann der Irrtum von morgen oder übermorgen sein.

Karl Poppers Prinzip der Falsifikation – und die Realität

Das hält die Wissenschaft nicht davon ab, im Alltag auch aus praktischen Gründen mit fundamentalen Annahmen zu arbeiten, die sich schon sehr lange, über Jahrzehnte hinweg als nicht falsch erwiesen haben. Einsteins Relativitätstheorie ist so ein Beispiel für ein Konstrukt, das durch diverse Experimente immer wahrscheinlicher wurde, letztlich aber nicht zu beweisen ist. Ähnliches gilt für die kleinsten Bausteine des Universums, die Quarks, die noch niemand gesehen hat, von denen die Teilchenphysik aber extrem plausibel nachgewiesen hat, dass es sie geben muss.

Die Annahme des Philosophen Sir Karl Popper, dass die Wissenschaft durch Falsifikation voranschritte, also durch Nachweise dafür, dass eine bisherige Annahme falsch ist, hat sich als bloße Theorie erwiesen. Nach wie vor arbeiten naturwissenschaftlich orientierte Forscher meist daran, ihre Annahmen mit plausiblen Experimenten zu untermauern. Aber sie wissen alle um die Vorläufigkeit ihrer Ergebnisse; sie zittern vor dem Tag, an dem sie widerlegt werden.

Kein Wissenschaftsverständnis: Christian Lindner

Das Ideal einer perfekten, endgültigen Erkenntnis für jetzt und alle Zeit ist aus den Wissenschaften immer mehr verschwunden, je weniger die Religion darin den Ton angab. Der Glaube ist heute das letzte Reservat für die Behauptung von fundamentalen, nicht zu bezweifelnden Wahrheiten – die Religion und jene Teile der Politik, die davon ausgehen, die Wahrheit für sich gepachtet zu haben. Eine Grundhaltung, die immer als sicheres Indiz für eine undemokratische Grundauffassung gelten kann.

Doch auch demokratische Politiker und ein Teil der Öffentlichkeit verlangen von „der Wissenschaft“ angesichts der Corona-Pandemie immer häufiger sichere Erkenntnisse, klare Handlungsanweisungen. FDP-Chef Christian Lindner offenbarte bei Maybrit Illner sein ganzes Unvermögen, wissenschaftliche Arbeitsweisen zu verstehen; auch NRW-Ministerpräsident Armin Laschet (CDU) klagte über eine lange laborierende Wissenschaft und uneindeutige Ergebnisse.

Die Hatz der „Bild“-Zeitung auf Christian Drosten

Und ein vollkommen durchdrehendes Boulevardblatt wie die „Bild“-Zeitung bläst aus lauter Unkenntnis, Ignoranz und Verlangen nach vermeintlichen Wahrheiten zur Hatz auf den Virologen Christian Drosten – aus Unfähigkeit, differenziertes Sprechen über widersprüchliche Forschungsergebnisse ertragen zu können, geschweige denn zu verstehen. Schwarz-Weiß-Bilder, ja oder nein – wer das von der Wissenschaft verlangt, erst recht auf einem neuen Forschungsfeld, hat nicht im mindesten verstanden, wie sie funktioniert.

Gerade auf neuen Forschungsfeldern gibt es eine Phase, in der verschiedene Forschungsmeinungen, -thesen und -theorien miteinander um die größte Plausibilität konkurrieren – Experimente zu ihrer Untermauerung müssen überhaupt erst einmal ausgedacht und dann durchgeführt und schließlich ausgewertet werden. Dann werden sie durch eine Veröffentlichung in Fachzeitschriften, die zunächst nur ihre Plausibilität und die Sinnhaftigkeit der Experiment-Bedingungen überprüft, der Forschungs-Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt. Die wiederum wird idealerweise Experimente zur Überprüfung und zum Widerlegen anstellen – und deren Ergebnisse wiederum publizieren. Auf diese Weise kristallisieren sich allmählich die Forschungsergebnisse mit der größtmöglichen Wahrscheinlichkeit heraus.

Es geht um die größere Wahrscheinlichkeit, nicht um Wahrheit

Das Forschungsfeld der Wirkung von Sars-CoV-2 auf den Menschen war vor wenigen Monaten noch eines, von dem man nicht einmal wusste, dass es je würde existieren können. Deshalb sind alle Erkenntnisse rund um das Virus als besonders vorläufig anzusehen; welche davon die größere Wahrscheinlichkeit für sich beanspruchen können, weiß am besten – die Virologie. Die aber kann nicht sprechen. Wenn das an ihrer Stelle einzelne Virologen tun, spricht immer nur ein Teil der Virologie. Und je seriöser er spricht, desto mehr wird er Erkenntnisse von Studien und Experimenten anderer anführen, die nicht hundertprozentig zur Deckung zu bringen sind, einander schlimmstenfalls sogar widersprechen.

Für die schwierige, ja heikle Übersetzung einer solchen unklaren wissenschaftlichen Lage in politisches, in gesellschaftliches Handeln, das eben nicht so viel Zeit hat wie die Wissenschaft, gibt es vielleicht am ehesten zwei Möglichkeiten: Entweder überträgt man die Aufgabe, Empfehlungen zu geben, einer wissenschaftlichen Einrichtung, die diverse Forschungsrichtungen in sich vereint wie der vor Corona noch gänzlich unbekannten Leopoldina; oder aber man überlässt Politikern wie der Physikerin Merkel im Bundeskanzleramt oder dem Mediziner und Epidemiologen Lauterbach das Feld, die mit wissenschaftlichen Grundprinzipien vertraut sind. Je mehr Eile man von der Wissenschaft verlangt, desto unzuverlässiger werden ihre Ergebnisse.

Fehler sind unvermeidlich, Kollateralschäden auch

Merkels und Lauterbachs Plädoyers für maximale Vorsicht sind getrieben vom fast schon wissenschaftlichen Bestreben, Fehler zu vermeiden – solche zumal, die den Tod vieler Menschen zur Folge haben können. Dafür könnten die Kollateralschäden große Ausmaße annehmen. Aber ohne Verständnis für die Mechanik der Wissenschaft wären sie womöglich noch größer. Vorhersagen sind auch für Wissenschaftler besonders dann schwierig, wenn sie die Zukunft betreffen.

Es ist gerade der Faktor Zeit, der Wissenschaft fast unvereinbar macht mit dem Entscheidungsdruck der Politik: Sie kann in Fällen wie Corona nicht wissenschaftlich entscheiden, sondern nur auf dem gegenwärtigen, notwendiger Weise unsicheren Stand der Wissenschaft. Der ist gewiss ein besserer Ratgeber als ein Bauchgefühl oder irgendwelche Umfragewerte. Aber es bleibt ein Dilemma, und wahr bleibt damit auch, was Gesundheitsminister Spahn schon ziemlich früh in der Corona-Krise ahnte: Wir werden hinterher alle viel zu verzeihen haben.