Essen. Es gab beim besten Orchester Deutschlands mehr als Furtwängler und Karajan. Eine CD-Box führt zur ersten Gesamtaufnahmen der Beethoven-Sinfonien.
Vermutlich wären selbst Klassikfreunde bei einem Jauch-Anruf ins Schwitzen gekommen: „Mit wem spielten die Berliner Philharmoniker erstmals alle Beethoven-Sinfonien ein?“ Schwanken würde man zwischen Gottvater Furtwängler und dem „Wunder Karajan“. Doch war es ein eleganter Belgier mit französischem Pass, an dessen Seite der Elite-Klangkörper alle Neune für die Platte deutete.
Heute ist dieser André Cluytens (1905-1967) ein Name für Insider, damals aber buhlten um den Mann, der 1955 in Bayreuth einsprang, um mit einem nachgerade duftigen „Tannhäuser“ zu überraschen und zu begeistern, die großen Plattenfirmen. EMI köderte den gebürtigen Antwerpener schließlich mit jenem Angebot, das man nicht ablehnen konnte – und das Anhören dieser zu Beethovens 250. Geburtstag frisch wiederaufgelegten Einspielung elektrisiert auch gut 60 Jahre später noch.
André Cluytens dirigierte die erste Beethoven-Gesamtaufnahme der Berliner Philharmoniker
Natürlich ist das eine Zeitreise in die Aufführungspraxis. Wer die drahtigen Lesarten des 21. Jahrhunderts im Ohr hat (zuletzt fabelhaft von Paavo Järvi und der Deutschen Kammerphilharmonie umgesetzt), der wird sich einhören müssen in ein wuchtig-romantisches Klangbild, dem Pathos nichts Peinliches bedeutet. Der dramatische Puls aber, den Cluytens etwa der Eroica (fast eine Konkurrenz für Bruno Walters legendären Coup) ablauscht, die ungestelzte Natürlichkeit des Erzählflusses noch in Beethovens überraschendsten Volten – das atmet eine zeitlose Magie. Wie Cluytens das mysteriensatte Allegretto der Siebten ertastet, mit welchen betörenden Details er das Idyll der sinfonischen Landpartie namens „Pastorale“ hintupft, das lässt einen nicht kalt. Sicher ist der Sound noch nicht im Kino-Format der späten Karajan-Einspielung, die Aura und Energie, die Cluytens versprüht (famos etwa in der oft unterschätzten Vierten) schmälert das nicht.
Alle Sinfonien Beethovens, aufgenommen in den späten 1950er Jahren
Man griffe freilich viel zu kurz, den Zauber dieser Gesamtaufnahme, in der sich von Coriolan bis Fidelio auch die zentralen Ouvertüren finden, allein Cluytens zuzuschreiben. Tatsächlich hören wir hier: das beste Beethoven-Orchester der Welt. Die Klasse, die Berlins Philharmoniker in der warmen Akustik der Grunewaldkirche (auf den CD-Hüllen falsch „Grünewaldkirche“ genannt) mobilisieren, ist unübertroffen. Sie reicht von der gleißenden Brillanz der ersten Geiger über die bestechende Souveränität sämtlicher Holzbläser bis zu jener Autorität der Trompeter, die dem „Egmont“ keine martialische Farbe schuldig bleiben.
Fast so erstaunlich wie diese bereichernde Wiederbegegnung ist die Tatsache, dass Cluytens’ Projekt heute kaum noch einen Stellenwert hat. Das Beethoven-Jahr beschenkt uns eben auch mit der Chance, solche Perspektiven zu ändern.
Cluytens/Berliner Philharmoniker, „9 Symphonies/Ouvertures“. Erato, 5 CDs, ca. 17€