Dortmund. Hip-Hop-Forscherin Sina Nitzsche erklärt, warum Deutschrap aus den Charts nicht mehr wegzudenken ist – und Rap diverser und weiblicher wird.
Straßenrap thematisiert den rauen und kompromisslosen Überlebenskampf in den ärmeren Vierteln unserer Städte. Dr. Sina Nitzsche, Lehrbeauftragte für Hip-Hop-Studies an der TU Dortmund und an der Ruhr-Uni Bochum, liebt und lebt für die Hip-Hop-Szene. Wir haben mit der 42-Jährigen über die Popularität und Diversität des Straßenraps, provozierende Kraftausdrücke und den angeblich schlechten Einfluss der Musikform gesprochen.
Warum ist Deutschrap in den vergangenen Jahren von der Spitze der deutschen Charts nicht mehr wegzudenken?
Sina Nitzsche: Es gibt viele Gründe. Ein Grund ist sicherlich, dass man heute ein ganzes Rap-Album praktisch im Kinderzimmer produzieren und vermarkten kann. Neue Programme und Streaming-Portale machen das möglich.
Also eine „Demokratisierung“ der Produktionsbedingungen?
Ja, und der Verteilung. Gleichzeitig hatten in den 2010er Jahren neue Genres ihren Durchbruch, wie zum Beispiel Straßen Rap, Battle Rap, Emo Rap, Cloud Rap und Afro Trap. Neue Generationen an Künstlerinnen und Künstlern bearbeiten neue Themen – und klingen anders.
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Stichwort „Straßen- und Jugendsprache“: Ist das Genre und die Musikwelt in Deutschland dadurch diverser geworden?
Hip-Hop hat sich schon immer mit den drängenden Fragen einer Gesellschaft auseinandergesetzt und Deutschrap ist in den letzten Jahren sprachlich und kulturell noch diverser geworden. In den 1990ern war Deutschrap bis auf wenige Ausnahmen von weißen Jugendlichen mit Mittelschichtshintergrund dominiert. Nun geben vermehrt Künstlerinnen und Künstler aus den verschiedensten sozialen Lebensrealitäten Einblicke in ihren „struggle.“
Inzwischen ist der Deutschrap voll im Mainstream angekommen – trotz, oder erst recht, wegen umstrittener Zeilen.
Die Sprache ist das wahrscheinlich wichtigste Medium im Rap, das einem ständigen kulturellen Wandel unterlegen ist. Künstler*innen wie SXTN, Juju, Nura oder Lady Bitch Ray eignen sich gesellschaftlich negativ besetzte Wörter, wie zum Beispiel „bitch“ an und deuten Sie auf kreative Weise um.
Für viele Ohren bleibt Deutschrap gerade wegen solcher Begriffe weiterhin polarisierend. Warum aber ist er so erfolgreich?
Gangster- oder Straßenrap mag besonders für bürgerliche Ohren polarisierend klingen. Straßenrap thematisiert den rauen und kompromisslosen Überlebenskampf in den ärmeren Vierteln unserer Städte. Kulturwissenschaftlich gesehen, ist die Popularität des Straßenraps auf die zunehmende gesellschaftliche Ungleichheit in Deutschland zurück zu führen, die mit der neuen Sozialgesetzgebung Mitte der 2000er Jahre angefangen hat. Der Erfolg des Straßenraps kann also als eine kulturelle Konsequenz einer sich wandelnden Gesellschaft gesehen werden.
Wie ordnen Sie sexistische, homophobe, gewaltverharmlosende und antisemitische Lyrics ein? Im Gangster- und Straßenrap sind Grenzüberschreitungen gängige Stilmittel. Rassistische, sexistische, homophobe, gewaltverherrlichende und antisemitische Texte sind aber in jeder künstlerischen Ausdrucksform zu sehen und kritisch zu hinterfragen, weil Sprache Realität schafft. Das gilt für den Deutschrap genauso wie für Schlager oder für die Literatur.
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Künstlerische Freiheit versus Vorbildfunktion?
Natürlich genießen Künstler Kunst- und Satirefreiheit, allerdings sollten sie sich über die Konsequenzen ihres Handelns bewusst sein. Schließlich haben Rapper – ob sie es wollen oder nicht – eine Vorbildfunktion für viele, besonders männliche Jugendliche. Die Rezeption der Raptexte reicht von der unkritischen Identifikation bis hin zu kritischen Lesearten, denn auch Jugendliche können zwischen einer Performance und der Realität unterscheiden. Die derzeitige Diskussion um den angeblich schlechten Einfluss der Rapmusik auf die Jugendkultur reiht sich zudem in eine lange Tradition der bürgerlichen Kritik an populären Kulturen ein. Sie reicht zurück bis zum Rock’n Roll der 1950er und 1960er Jahre, geht über die Punk-Kultur der 1980er Jahre und der Computerspiele in den 1990ern und 2000ern.
Ist der Schock als Stilmittel im Gangsterrap denn noch authentisch oder wird er inzwischen bloß zum Verkaufsargument?
Grenzüberschreitung besonders im Straßen- oder Gangsterrap zahlt sich in der Tat kommerziell sehr aus. Aber ich beobachte seit einiger Zeit auch Gegentendenzen im Deutschrap. Ich persönlich bin gespannt, wie sich das Genre in den 2020er entwickelt. Vielleicht hören die Jugendlichen bald auch ganz andere Popmusik, zum Beispiel K-Pop oder Afrobeat.
Was sind Besonderheiten des Rap aus dem Pott? Die Menschen aus dem Ruhrgebiet gelten als direkt. Und stereotype „Pottbiografien“ passen zu Lyrics über hartes Leben und sozialen Aufstieg.
Rapmusik lässt sich oft aus dem ihn umgebenden Umfeld inspirieren. Der Rap im Ruhrpott ist besonders, weil er die Auswirkungen des Strukturwandels in den Texten, der Musik und den Videos verhandelt.
Welche Rolle spielen inzwischen Frauen im Deutschrap – und welche wiederum Rollenklischees?
Frauen gehörten seit den 1970er Jahren zur Hip-Hop-Kultur, aber sie wurden in einer männlich-dominierten Subkultur oft marginalisiert. Künstlerinnen wie Beyoncé, Cardi B oder Nicki Minaj haben eindrucksvoll gezeigt, dass Rapperinnen ebenfalls erfolgreich sein können. Sie sind große Vorbilder für manche Künstlerinnen in Deutschland geworden. Es gibt auch vermehrt feministische Initiativen, wie zum Beispiel das Online-Projekt 365 Female Emcees der Leipziger Journalistin Lina Burghausen, das inzwischen auch international für Furore sorgt.
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Wie passen weiblicher Deutschrap und frauenverachtende Ausdrücke zusammen – die durchaus in den Texten von Rapperinnen zu finden sind?
Rapperinnen eignen sich frauenverachtende Ausdrücke an und deuten sie kreativ um. Immer mehr Künstlerinnen sind dabei, eigene feministische und queere Positionen in dieser männlich dominierten Kultur zu entwickeln.
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