Kriminell, melancholisch, komisch, märchenhaft. Heute in unserer Serie: Erzähl-Werke vor, die sich ums höchste der Gefühle drehen: die Liebe

„Schiffsmeldungen“ (Annie Proulx)

„Schiffsmeldungen“ ist so ein halb vergessenes Buch, das man in der Corona-Isolierung aus dem Regal zieht und dann nicht wieder aus der Hand legt. Mit beiläufiger, herzklopfender Sprache webt die US-Autorin Annie Proulx eine Hommage an alle Verlierer und zugleich eine Liebeserklärung an den Lokaljournalismus. Quoyle ist einer, der getreten wird. Mit 36 verwitwet, versucht dieser Antiheld zusammen mit seinen Töchtern und einer Tante auf der Insel Neufundland ein neues Leben aufzubauen. Lauter gescheiterte Existenzen plus ein zahnloser Hund landen in einem engen Milieu, geprägt von Armut und Gewalt. Und doch! So wie Unkraut lange unsichtbar durch Ritzen treibt, so gedeiht die Hoffnung in unmerklichen Schritten. Und es wächst auch eine zarte neue Liebe. Annie Proulx hat uns ein Plädoyer für die Kraft und das Wunder des Neuanfangs geschenkt.

„16 Uhr 50 ab Paddington“(Agatha Christie)

Der Vorteil von wiedergelesenen Büchern: Man kann die Lektüre gegen die Erwartungen bürsten. So funktioniert Agatha Christies Klassiker eben nicht nur als Krimi, als raffiniertes Indizienrätsel, sondern auch als Überkreuz-Geschichte zweier Liebespaare. Dr. Quimper möchte Emma Crackenthorpe heiraten, die Enkelin eines Pralinenkönigs. Leider ist Dr. Quimper schon verheiratet. Mrs Marples Freundin hat einen Mord beobachtet, zu dem es keine Leiche gibt. Also schickt La Marple Lucy Eyelesbarrow als Haushälterin getarnt zu den Crackenthorpes. Die scharfsinnige junge Frau ist Oxford-Mathematikerin, verdient sich ihr Geld aber als Perle bei den Reichen. Neben weiteren potenziellen Schurken tritt ein verwitweter Weltkriegsflieger auf, der am Boden nicht klarkommt und einen halbwüchsigen Sohn hat, der als Postillon d‘amour fungiert. Ganz ohne Schmalz und Schluchzen wird zwischen Arsen und Lendenbraten eine very britische Ehe angebahnt. Köstlich.

„Das Herz ist eine miese Gegend“ (Thommie Bayer)

Vielleicht kennen Sie Thommie Bayer mehr aus dem Radio, wo er den letzten Cowboy aus Güterslohoho kommen ließ und aus einer etwas bröselig gewordenen Beziehungskiste heraus singsangnölte „Ich hol dir keine Sterne mehr vom Himmel“. Das Pferd vom Cowboy hatte damals blaue Augen, Thommie Bayer versteht also was von Romantik und Melancholie mit Zwinkern, von Herzgeschichten mit realistischer Erdung. In dieser Mischung ergibt „Das Herz ist eine miese Gegend“ einen wunderbaren Spaziergang durch die 60er-, 70er- und 80er-Jahre am roten Faden des Herzleids entlang, das nur den reinsten Toren vorbehalten ist, die sich ohn’ Arg verlieben, verlieren und verlassen lassen.

„Selbstporträt mit Bonaparte“ (Julia Schoch)

Lieben heißt die Welt, die Menschen, vor allem diesen einen speziellen Menschen in einem neuen, helleren Licht zu sehen – und sich selbst auch. In Julia Schochs Roman gewordener Liebeserklärung trägt dieser eine spezielle Mensch den Spitznamen Bonaparte (aus Gründen), und ihr „Selbstporträt mit Bonaparte“ ist eine schonungslose Erkundung, was die Liebe mit uns macht. Mit Bonaparte teilt die Erzählerin ihre Leidenschaft für das Roulettespiel, für diesen Moment, in dem die Kugel sich schon in Bewegung gesetzt, aber noch nicht festgelegt hat. Ebenso aus der Zeit gefallen scheinen jene Phasen von Bonapartes Abwesenheit, die Tage dauern können oder Wochen, diese „sonderbare Unverbindlichkeit auf Dauer“: „Die längste Abwesenheit, habe ich immer gedacht, wäre eine, die in einen Text passt. Ein Text über Bonaparte, was heißt: uns.“ Und während sie also schreibt, während wir lesen – rollt die Kugel noch. Und alles ist möglich.

„Gespräche unter Freunden“ (Sally Rooney)

Wenn drei schon einer zu viel sind, was ist dann erst mit – vier? Mit einem enormen Witz, genauer Beobachtungsgabe und einem virtuosen Umgang mit literarischen Formen hat die Irin Sally Rooney in ihrem Debütroman von 2017 ein Beziehungsgeflecht offen gelegt, das so gegenwärtig wie großstädtisch daherkommt. Die Poetry-Slammerinnen Frances und Bobbi sind Anfang 20 und ein Paar, aber als sie auf die zehn Jahre ältere Melissa und ihren umwerfend schönen Schauspielergatten Nick treffen, brechen die Beziehungen auf. Es beginnt ein Lauf durchs Spiegelkabinett, inklusive optischer Täuschungen, Emails und Nachrichten und einem Sommer in der Bretagne. Bis Rooney am Ende ihre Figuren zu einer altbekannten Wahrheit führt: Es ist, was es ist – immer noch.

„Grimms Märchen“

Wie oft die größten Nach-Erzähler der deutschen Literatur uns Gesichter der Liebe zeigten, das haben wir als Knirpse abenteuergierig übersehen. Dabei sind die Kinder- und Hausmärchen der Kasseler Brüder Grimm – beschützt von Hecken „ungetrübter Phantasie“ – voll davon: Erst in der Ehe lernt der Mann das Fürchten. Erst Wut und Enttäuschung machen aus Fröschen Prinzen. Erst die Liebe lässt, – wie in Rapunzel – Blinde sehen und wo sie fehlt, kompensiert die Fischersfru das so lange im gesellschaftlichen Aufstieg, bis der stinkende „Pißputt“ wieder ihr Zuhause ist.