Essen. Wie ist es, wenn die eigene Mutter eine berühmte Hollywood-Schauspielerin war? Anne Enright gelingt mit ihrem neuen Roman ein großartiges Porträt.

Wie war sie? Dies ist die Frage, die Norah als erstes über ihre Mutter gestellt wird – wie war Ka­therine O’Dell, der Hollywood-Star aus Irland? Und Norah gibt ihnen, den Fragenden, was sie wollen: Gibt ihnen ihre Mutter, wie sie in ihrem Dubliner Haus am Frühstückstisch Toast isst, „Zigarettenrauch steigt auf und verzwirbelt sich zu einer eleganten Doppelhelix“, vielleicht spricht sie mit ihrer Tochter oder mit ihrem Hund unter dem Tisch, dann aber kippt die Stimmung: „Der Toast wird nun völlig ignoriert. Für sie ist der Toast jetzt gestorben. Der Stuhl wird zurückgeschoben, die Zigarette allen Ernstes auf dem Teller ausgedrückt. Meine Mutter steht auf und geht weg, denn, ich hatte es bereits erwähnt, meine Mutter war ein Star.“

Aus der gefeierten Berühmtheit wurde in ihren letzten Jahren eine Verrückte

So fein und präzise, mit einem leisen Hauch von Ironie beginnt die irische Autorin Anne Enright ihr Porträt einer Frau, die aus einfachsten Verhältnissen stammt und in das Berühmtsein hineinstolpert – eigentlich ein Doppelporträt, können wir doch in der Figur Norah verfolgen, wie es die Persönlichkeit formt, wenn sie im Schatten gedeihen muss: „Es war schwierig, einen eigenen Ton zu finden“, erzählt Norah, selbst auf der Party zu ihrem eigenen 21. Geburtstag. Tröstlich gleich von Beginn an, dass Enright ihrer Norah einen Menschen an die Seite stellt, dem diese ihre Geschichte erzählt, den sie mit „Du“ anspricht – das Schattenkind ist nicht mehr allein.

Wäre auch etwas viel, mit all dem allein zu sein; schließlich wurde aus der Berühmtheit in ihren letzten Jahren die Verrückte, die auf dem Gipfel ihrer Verrücktheit einem Produzenten in den Fuß schoss, mit einer Waffe, die wie Requisite aussah, aber doch echt war. Hier sind wir mitten im wilden, derben Künstler-Irland, dessen strahlender Stern Katherine O’Dell so lange war. Eine rothaarige Irin durch und durch, nur war das ganze Irischsein wiederum nur Requisite, Image: Denn geboren und aufgewachsen ist Kathe­rine in London, wo Jahrzehnte später ihre Tochter ihre biografischen Wurzeln verfolgen wird. Irin wurde Katherine erst in New York, wo ihr die Haare gefärbt wurden und das O’ vor den Namen geapostropht, und so verzauberte sie als irisches Wunderkind den Broadway. Die Ehe mit ihrem Schauspielerkollegen wurde arrangiert vom Hollywood-Studio; wer Norahs Vater ist, wird sie trotz aller Recherchen nicht erfahren.

Dort auftreten, wo Shakespeare noch überraschen kann

Norah aber erzählt auch von den Wurzeln ihrer Mutter, von den Schauspieler-Großeltern, die übers Land tingelten in Dörfer, wo niemand Shakespeare kannte und folglich noch so richtig mitfieberte. Auch diese Passagen leben von tiefer Einfühlung in Wirklichkeiten, die unserer heutigen fern sind. Enright, die mit einem Theater-Intendanten verheiratet ist, beweist hier intime Kenntnis des Berufsstandes.

Am Ende hat Norah ein höchst komplexes Bild erstellt, und die Frage „Wie war sie?“ beantwortet sie mit einem schlichten Satz, der gleichzeitig alle Widersprüche, Gefühle, Nuancen erfasst: Wie war sie? „Sie war meine Mutter.“

Anne Enright: Die Schauspielerin. Penguin, 304 S., 22 €