Essen. Menschen in Geschichtsmühlen: Wie ein deutscher Auswanderer zum Teil des Nazi-Spionagenetzes wurde und wie es ihm nach dem Krieg in Neuss erging.

Hin und wieder sind Ulla Lenzes Texte mit dem bösen Wort von der „Stipendiatenprosa“ belegt worden, was ein bisschen ungerecht war: Ihre Romane und Essays umkreisten regelmäßig Gegenstände und Gemütsstimmungen, die auf unvoreingenommene Lesart vielleicht weit hergeholt wirkten: Einerseits verdienstvoll, weil die 1973 in Mönchengladbach geborene Autorin, die in Köln Philosophie und Schulmusik studierte, mit Aufenthalten in Syrien, Indien, Libyen, Italien und der Türkei zu den wenigen wirklich Weitgereisten, ja weltläufigen ihres Faches hierzulande zählt; andererseits kamen die Problemlagen ihrer Texte zuweilen etwas ausgesucht und dominiert von der besonderen Erfahrungswelt einer Geistesarbeiterin mit weit gespanntem Horizont daher.

Und nun eine grandios geerdete Geschichte mit historischem Kern: Es geht um einen Mann, der als junger Bursche Mitte der 20er-Jahre des 20. Jahrhunderts auswandert aus dem Rheinland nach New York. Josef Klein sucht sich dort einen Job in einer Druckerei und wird begeisterter Amateurfunker. Das wiederum macht ihn Ende der 30er-Jahre interessant für das deutsche Spionagenetzwerk in den USA, das ihn anwirbt, ohne dass er so recht angeworben werden möchte. Man setzt ihn geschickt unter Druck, er wehrt sich – und wie es weiterging, erzählt Joe, den seine daheimgebliebene Mutter zwischenzeitlich „Jö“ nannte, seinem Bruder Carl, der im Nazi-Deutschland überwinterte und sich etwas darauf zugutehält, dass er „Feindsender“ gehört habe.

Folgenreiches Rendezvous mit einer Funkerin

Ulla Lenze macht am Fall des Josef Klein (der so manches mit ihrem Großonkel Josef Klein gemeinsam hat, letztlich aber eine Erfindung ist) enorm luzide nachvollziehbar, wie faschistische Systeme es schaffen, auch jene einzugemeinden, die eigentlich gar nicht dazugehören wollen. Josef Klein ist fast ein Mann ohne Eigenschaften, er braucht Distanz zu den meisten Menschen und sehnt sich doch nach Intimität, deshalb funkt er so gern. Und als er sich mit der begeisterten Hotelierstochter und Funkerin Lauren endlich einmal trifft, verliebt er sich in sie, ohne sie schön zu finden. Die Politik wird am Ende selbst über den Ausgang dieser Liebe entscheiden – weil Josef die Kraft fehlt, eigene Entscheidungen zu treffen, wenn sie ihm nicht gerade unmittelbar abverlangt werden.

Der Roman schildert fast zum Riechen authentisch die Atmosphäre zwischen den Vor- und den ersten Nachkriegsjahren in den USA, in Deutschland, im Rheinland, auch wenn hier und da ein kleiner Fehler unterläuft („Bund Deutscher Mädchen“) und manche Geste, manche sprachliche Wendung deutlich aus späterer Zeit stammt („neue Kommunikationswege“, „Hobby“). Vor allem aber überzeugt Ulla Lenzes Gestaltung von Personen, Neben- wie Hauptfiguren, die durch ihre Eigenheiten zu Sozialcharakteren werden. Allen voran die Umrisse des herumgeschubsten Joe Klein, der sich allen Sehnsüchten zum Trotz beherrschen lässt von der Macht des Faktischen, was ihn letztlich der Willkür des Zufalls ausliefert. Dass man das Interesse für diesen Helden der Ohnmacht nicht verliert, ja nicht ohne Verständnis auf ihn blicken kann, zeugt von erzählerischer Meisterschaft.

Ulla Lenze: Der Empfänger. Roman. Klett Cotta, 302 S., 22 Euro.