Essen. Der Historiker Tobias Korenke verlor etliche Verwandte aus dem Kreis um die Attentäter des 20. Juli. Und hat ein Buch darüber geschrieben
Es war eine Minderheit, aber es gab in der Nazi-Zeit in Deutschland auch Widerstand: von Sozialdemokraten, Kommunisten, und Christen, von Menschen, die Barbarei des Nazi-Systems nicht unwidersprochen hinnehmen wollten. Die Widerständler vom 20. Juli 1944 waren dabei stets umstritten. Der Historiker Dr. Tobias Korenke hat darüber ein Buch geschrieben, er ist Neffe des Theologen Dietrich Bonhoeffer, Korenkes Großmutter war Bonhoeffers Schwester. Manfred Lachniet sprach mit ihm über sein Buch „Widerstand aus Loyalität“.
Herr Korenke, Sie haben Ihr Buch Ihren Töchtern gewidmet. Warum?
Korenke: Wir können aus den Geschichten des Widerstands viel für die Gegenwart lernen: Wie wichtig es ist, den Rechtsstaat wie seinen Augapfel zu hüten. Dass Bindungen stark und resistent machen. Dass der Einzelne Verantwortung für das Ganze trägt und sein Verhalten immer einen Unterschied macht. Dass es notwendig ist, stets der Wahrheit auf der Spur zu bleiben, dass Empathie dem Leben Sinn gibt und noch vieles mehr. Genau deshalb habe ich dieses Büchlein geschrieben: Um zu zeigen, dass die Männer und Frauen aus dem Widerstand eben nicht ferne Helden aus einer dunklen Vergangenheit sind, sondern Menschen, die Werte und Verhaltensweisen verkörpern, die auch wir für unser Zusammenleben brauchen.
Wie war das für Sie als Kind: aufzuwachsen in einer Familie, von denen nicht wenige von den eigenen Landsleuten verfolgt, ja ermordet wurden? Ist man da stolz?
Nein, mit Stolz hat das nichts zu tun, es war eben so. Sie sind ermordet worden, weil sie das Richtige taten. Erst als ich selbst Vater wurde, habe ich verstanden, wie groß das Opfer war, das diese Menschen brachten: Sie haben ihre Liebsten zurückgelassen, um das Land von der Diktatur zu befreien. Es schmerzt, dass das Land das nie verstanden hat oder verstehen wollte.
In den ersten Nachkriegsjahrzehnten wollten die Deutschen die Nazi-Zeit am liebsten vergessen. Manche bezeichneten die Widerstandskämpfer vom 20. Juli gar als Verräter. Was hat das in den betroffenen Familien ausgelöst?
Ich weiß, dass meine Großmutter, die ja nach der Ermordung ihres Mannes, zweier Brüder, eines Schwagers und eines Onkels irgendwie weiterleben musste, sehr traurig darüber war. Sie hat übrigens erst 1955 eine Pension erhalten. Da bekam die Witwe Roland Freislers, also des obersten Richters am Volksgerichtshof, der ihren Mann zum Tode verurteilt hatte, schon lange Angestellten-, Kriegsopfer- und Schadensausgleichsrente. Es ist symptomatisch, dass es meist die Familien der Widerstandskämpfer waren, die sich dafür einsetzten, dass der Widerstand in der Nachkriegsgesellschaft nicht vergessen wurde. Die Mehrheit hatte nicht viel Interesse daran, an Menschen zu erinnern, die sich, anders als die Mehrheit, nicht mit der Diktatur abfinden wollten und konnten.
Ab den späten 60er-Jahren wurde gerade von linker Seite kritisiert, dass manche Kämpfer des 20. Juli keine echten Demokraten gewesen seien.
Die 68er hatten große Lust am Denkmalsturz. Ich glaube aber, dass hier die verdrängte Auseinandersetzung mit der schuldhaften Verstrickung der eigenen Eltern eine Rolle spielte. Die Kinder der Blockwart-Generation konnten schwer ertragen, dass es Menschen gab, die das Unrecht im Nationalsozialismus erkannten und sich dagegen engagierten. Hannah Arendt hat das mal sehr treffend auf den Punkt gebracht: „Wo alle schuld sind, ist es keiner“. Widerstand gegen die Nazi-Diktatur zielte auf die Überwindung des Regimes ab, und das bedeutete, die Existenz, ja, das eigene Leben zu riskieren.
Waren Sie Helden?
Nach dem Krieg haben manche Mitläufer entschuldigend gesagt, sie seien eben „nicht zum Helden geboren“. Das waren die Widerstandskämpfer auch nicht. Sie haben wahnsinnig gerne gelebt. Und gerade aus dieser Liebe zum Leben und zur Freiheit haben sie sich gegen das todbringende Regime erhoben. Keiner von ihnen hat sich als Held verstanden. Ich wehre mich dagegen, diese Menschen auf eine hohes Podest zu stellen. Dann werden sie unerreichbar und wir lernen nicht von ihnen. Aber sie haben Außerordentliches getan: sie haben sich gegen die Mehrheit gestellt und für das Leben und die Freiheit gekämpft. Ja, solche Menschen gab es und gibt es immer wieder, schauen Sie sich nur die mutigen Menschen an, die sich im Iran, in China oder in Russland gegen die Diktatur einsetzen-- und dabei ihre Existenz, häufig auch ihr Leben in Gefahr bringen.
Einige aus dem Widerstand hatten Vorbehalte gegenüber Juden. Das erscheint aus heutiger Sicht furchtbar.
Die Tochter eines von den Nazis ermordeten Widerstandskämpfers sagte mir mal: „Mein Vater hat sich für seinen Einsatz gegen die Judenverfolgung umbringen lassen. Er hätte sich aber umgebracht, wenn ich einen Juden geheiratet hätte.“ Wie geht das zusammen? Das hat mich interessiert und deshalb versuche ich in meinem Buch, diesem auf den ersten Blick widersprüchlichen Verhalten auf den Grund zu gehen. Wie auch wir heute, waren diese Menschen in ihrer Zeit verhaftet. Und zur mentalen Ausstattung vieler Bürger gehörte in den 30er-Jahren auch der Antisemitismus. Dass viele Widerstandskämpfer angesichts der für alle deutlich sichtbaren brutalen Ausgrenzung und Verfolgung der Juden diese Vorbehalte aber hinter sich ließen und sich für die Verfolgten einsetzten, zeigt ihre Menschlichkeit. Damals war man als Antisemit nicht automatisch ein Nazi. Wer allerdings heute, nach der Shoah, antisemitische Vorurteile pflegt, ist ein Nazi und tickt nicht ganz sauber.
Nazis gibt es wieder in der Politik. Wie kann das passieren? Gibt es zu wenig Widerstand?
Ich finde, es gibt zu wenig Widerspruch. Wir müssen uns mit diesen Menschen argumentativ hart auseinandersetzen und klare Kante zeigen, überall, zu jeder Zeit. Wir müssen klarmachen: Diese Menschen wollen Unfreiheit, Gewalt und Tod. Und wir müssen uns einsetzen für Freiheit, Zivilität, das Leben. Das kann man von den Widerstandskämpfern lernen.
Wäre der 20. Juli nicht ein guter Feiertag zum Gedenken an den Widerstand?
Ja, das wäre der richtige Tag. Ich fürchte aber, Freiheitsbewegungen haben keinen leichten Stand in Deutschland. Und es fällt wohl schwer, an Menschen zu erinnern, die sich so ganz anders als die Mehrheit verhalten haben. Sie machen ja das Versagen der Mehrheit deutlich und zeigen, dass es Handlungsalternativen gab. Das ist das Geschenk, das uns diese Menschen machen: die Einsicht, dass es immer Handlungsalternativen gibt. Auch heute. Ich sage meinen Töchtern immer: legt das Smartphone weg, springt vom Sofa und engagiert Euch: für das Recht, die Freiheit, das Leben!
Zum Buch:
Heute interessiert sich kaum noch jemand für den 20. Juli. Widerstandskämpfer wie die Bonhoeffer-Brüder oder von Stauffenberg scheinen vergessen. Die Bewertung ihres Handelns ist zudem umstritten, es hält sich das Motiv des Vaterlandsverrats. Tobias Korenke spürt 75 Jahre nach dem Attentat auf Adolf Hitler am 20. Juli 1944 in einem Essay der Aktualität des Widerstandes nach. Die Motivation des Autors ist durchaus eine persönliche. Seine Großmutter Ursula Schleicher war die älteste Schwester von Dietrich und Klaus Bonhoeffer. Sein Großvater Rüdiger Schleicher schloss sich dem Widerstand an. Eine Tante heiratete Hans von Dohnanyi, der eine bedeutende Rolle im Widerstand spielen sollte. Und Paul von Hase, ein Vetter der Großmutter, fand ebenfalls den Weg in den Widerstand. Diese fünf Männer bezahlten ihren Einsatz mit ihrem Leben.
„War es das wert?“, fragt Tobias Korenke. Das Buch untersucht zum einen die Gründe, warum die Familie Bonhoeffer sich entschied, gegen die Nationalsozialisten aufzutreten. Außerdem wird geschildert, wie im Freiburger Kreis eine Gruppe von Professoren in den Widerstand fand.
Ein wichtiger Aspekt ist die Frage nach der Bedeutung der Erinnerungskultur für heute. Korenke: „Auch das ist eine Lehre aus dem 20. Juli 1944. Es braucht Menschen, die bereit sind, mutig für das einzutreten, was ihnen das Leben erst lebenswert macht: das Recht, die Gemeinschaft, die Wahrheit, das Eintreten für den Mitmenschen, die Freiheit.“
Tobias Korenke: Widerstand aus Loyalität. Zum Verständnis einer deutschen Freiheitsbewegung. Klartext, 186 S., 18 Euro
Tobias Korenke ist Unternehmenssprecher der Funke Mediengruppe.