Die große WAZ-Serie „Mein Beethoven“: Komponist Stefan Heucke hörte Beethoven schon als Kind – und brauchte doch ein Leben, um ihn zu begreifen.

„Beethoven war bei uns daheim ein Sonntagsgast. Dabei war es kein sehr „klassischer“ Haushalt, mein Vater war Postbeamter, aber an seinem freien Tag setzte er sich an den Plattenspieler, um eine Beethoven-Sinfonie zu hören. Und was ich schon als Kind gelernt habe: Da hört man zu! Dazwischenquatschen war absolut verpönt. Das war mein Anfang mit Beethoven.

Schon als Kind fasziniert hat mich nicht etwa der wuchtige Anfang der Fünften. Nein, es war dieser unglaubliche langsame Satz der siebten Sinfonie, der mich extrem beeindruckte. Diese Musik hat mein Herz tief angerührt: Wie sich eine Melodie steigerte, wie sie dominant wurde, dann wieder verklang – diese Entwicklung wie aus dem Nichts, das hat mich gepackt.

„Ich hatte immer das Gefühl: Das ist die mir vertrauteste Musik“

Rückblickend wundere ich mich fast, dass mir diese Klänge nie fremd waren. Ich hatte immer das Gefühl: Das ist die mir vertrauteste Musik, die es überhaupt gibt. Natürlich gab’s zeitgleich - ob in meiner Familie, im Radio oder bei Kameraden - extrem viel Unterhaltungsmusik. Die war mir total fremd. Und wenn ein Kind mit Beethoven mehr anfangen kann als mit einem flotten Schlager, dann steht das wohl für meinen späteren Werdegang.

Wenn ich über mich als Komponisten etwas Charakteristisches sagen sollte, dann glaube, dass ich ein ganz gutes Gefühl für Timing habe: Wie lang darf etwas sein? Wann muss etwas in der Musik geschehen? Und das Gespür dafür, da bin ich ganz sicher, habe ich den Sonntagskonzerten zu Hause zu verdanken: Ich habe immer dasselbe gehört – und immer das Beste.

„Beethoven suchte immer nach der Wahrhaftigkeit der Aussage“

Später im Studium lernte ich, welche ungeheuren Kniffe bei der motivischen Arbeit man von Beethoven lernen kann, beim Kontrapunkt und vor allem: wie man sich dabei über Regeln hinwegsetzt! Das Regelbrechen ist heute kaum noch ein Thema. Es gibt ja keine Tabus mehr. Es ist alles geschehen: Es wurden Flügel auf der Bühne zusammengeschlagen!

Ein Vorbild für mich als Komponist ist Beethoven vor allem, weil er immer nach der Wahrhaftigkeit der Aussage sucht: „Für das, was ich sagen will, mobilisiere ich alle Kraft und Intensität, die mir als Künstler zur Verfügung steht!“

„Die Hammerklaviersonate habe ich durch Grigory Sokolov verstanden“

Obwohl ich selbst Musik schreibe, habe ich später viele Jahre lang das Gefühl gehabt, bestimmte Werke Beethovens begreife ich einfach nicht. Ja, ich hatte Vorbehalte: die Hammerklaviersonate, das „Sich -Verlieren“ in der Großen Fuge, das Gewaltsame der Neunten, die späten Quartette…. Manchmal öffnen einem die Interpreten dann das Tor. Ich hörte zum Beispiel Grigory Sokolov mit der Hammerklaviersonate und bekam ein Ohr für das, was dort geschieht. Seitdem bin ich unterwegs, auch das Spätwerk zu verstehen.

Inzwischen hat Beethoven noch eine andere Bedeutung für mich: Er ist der große Licht-Anzünder. Er ist der, der unter allen Umständen darauf besteht, das Licht anzuzünden – auch wenn er genau weiß, dass die Welt entsetzlich ist und grausam und die Mühe fast sinnlos. Aber Beethoven ist da fest: Man muss das Licht vor sich hertragen! Man muss darauf bestehen, dass die Flamme nicht erlischt. Diese Größe Beethovens, die aus seiner Musik mindestens so spricht wie aus dem schwierigen Leben, in dem er wenig Liebe erfahren hat, die habe ich erst spät registriert. Aber heute, vielleicht hängt das auch mit dem eigenen Alter zusammen, bedeutet sie mir besonders viel. Es ist ein starkes „trotz allem“ – und diese Größe habe ich bewundern und lieben gelernt.“
Aufzeichnung: Lars von der Gönna