Essen. „Sind wir nicht Menschen“: In seinem Story-Band erzählt T.C. Boyle vom Menschen und seiner Natur – und von einem, der Mundschutz tragen muss.

Den Status als Rockstar der amerikanischen Literatur hat T.C. Boyle seinen Bestseller-Romanen zu verdanken. Sein ganzes Können aber zeigt sich in der in seiner Heimat so gepflegten Tradition der Short Story: Während seine Schriftsteller-Kollegen noch darüber nachgrübeln mögen, wie man so etwas Verrücktes wie eine weltumspannende Viruskrise literarisch zu fassen kriegen könnte, sagt Boyle in seinen kurzen Texten längst alles, was es zum Thema „der Mensch und (seine) Natur“ zu sagen gibt. Auf eine Weise, die die Verrücktheit der Welt so selbstverständlich einfließen lässt, als spiegelten diese Texte einfach nur das Leben selbst.

Ein Dickicht aus Alltagsproblemen und den täglichen kleinen Kämpfen

Ein marodes Haus, wild verwuchert, darin die Leiche eines gealterten Musikers und dessen Tagebücher, ein neugieriger Nachbar und eine lange zurückliegende Katastrophe: Wie in der Story „Sic transit“ (und das „gloria mundi“ darf man sich dazudenken) müssen sich Boyles Helden oft durch ein Dickicht aus Alltagsproblemen und den täglichen kleinen Kämpfen schlagen, um plötzlich von einem ganz und gar unerhörten Ereignis aus ihrem Trott gerissen zu werden. Der Rockstar hatte einst eine kleine Tochter, in seinem Tagebuch schildert er einen Sommertag am Strand eines Flusses, es geht um zwei Pärchen und eine Affäre, die Erzählung plätschert dahin – plötzlich aber ist die Tochter verschwunden. Der Nachbar – eher oberflächlich, materiell, kein Sympathieträger – schenkt dem glücklichen Ausgang der Geschichte Glauben. Bis er einen alten Zeitungsausschnitt findet: Was wir wahrnehmen von fremden Leben und wie diese Leben sich anfühlen, das fällt meist nicht ins eins.

Der Mensch meint, Instinkte überwunden zu haben – und wird doch von ihnen geleitet

Boyle versteht die Kunst, sein Anliegen gar nicht erst wie ein Anliegen scheinen zu lassen: Was er seinen Lesern sagen will, das könnten sie selbst in ihrem Alltag, an sich, an ihren Mitmenschen beobachten. Ganz beiläufig begegnen wir in vielen der Texte Tieren, denen der Mensch Schlimmes antut: Ob es um Schafe geht, die von schlecht erzogenen Hunden gejagt werden, um einen Bären, der von Wilderern ausgeweidet wurde. Oder, dies plakativer, um eine Tigerdame, die von einem wahren Tierfreund ausgewildert wurde – und ihre Scheu vor Menschen so nachhaltig abgelegt hat, dass indische Dörfer ihr nun ein wunderbares Jagdrevier sind. Die Natur kennt keine Moral, aber ist dies wirklich schlechter als die Moral des Menschen? Der (oft) Gutes will, aber falsch abbiegt, der meint, Instinkte überwunden zu haben – und doch von ihnen geleitet wird?

Ein mexikanischer Hilfsarbeiter hat Tuberkulose – und trinkt aus Frust Corona-Bier

Unsere Überheblichkeit führt uns Boyle vor Augen, unsere Arroganz. Zu den Bildern, die haften bleiben, gehört das von A.J.’s Mutter: Während die Sturmflut an der arktischen Insel tobt, die ihre Heimat ist (aber nicht mehr lange, zehn Jahre gibt A.J.s Erdkundelehrer diesem Stückchen Land noch), während das Wasser bereits die Zipfel ihrer Bettdecken dunkel färbt – da liegt A.J.s Mutter im Bett. Und liest einen Roman.

Wenn am Ende der mexikanischer Hilfsarbeiter Marciano tatsächlich Mundschutz trägt, wenn er den Frust über die resistente Tuberkulose in seinem Körper mit Bier (Corona!) ertränkt – dann werden Boyles utopische Geschichten von der Gegenwart eingeholt. Wie es ist, eine Gefahr für die öffentliche Gesundheit zu sein, hier können wir es nachlesen.

T.C. Boyle: Sind wir nicht Menschen. Hanser, 400 S., 23 €