Essen. Die Regale sind leer, die Kneipen voll: Warum Menschen unterschiedlich auf die Corona-Krise reagieren – und welches Grundgefühl dahinter steckt.
Die Corona-Krise trifft auch jene, die nicht erkrankt sind, auf je eigene Weise: Die Ärztin, die im Krankenhaus rotiert. Den Musiker, der alle Aufträge verliert. Den Firmenbesitzer, der seine Mitarbeiter nicht mehr bezahlen kann. Oder auch den Großvater, der auf den Besuch der Enkel verzichten muss. Sie alle erleben die Krise unterschiedlich. Ein Grundgefühl aber eint sie: die Verunsicherung. Denn was gestern noch galt, ist heute zertrümmert, weggebrochen, aufgelöst.
Gestern haben wir noch gehört, die Lieferketten seien trotz Grenzschließungen gewährleistet – heute ist das Toilettenpapier schon wieder ausverkauft und es werden keine Autos mehr gebaut. Gestern galten Schulschließungen als undenkbar, heute tummeln sich unsere Kinder im virtuellen Klassenzimmer. Niemand hat die Absicht, in NRW Ausgangssperren zu verhängen? Noch vor einer Woche schienen Restaurantschließungen absurd, galten die radikalen Daheimbleiber als überängstlich.
Ein Grundbedürfnis nach Sicherheit, nach Kontrolle, nach Normalität und Routine
Das, was wir heute für Information halten, kann sich schon morgen als Mythos erweisen: Ob Kinder Überträger sein können, ob Erkrankte fortan immun sind, ob Ibuprofen Schaden anrichtet – wenn derart elementare Fragen offen sind, können wir auch ebenso gut glauben, dass Wassertrinken hilft (oder reichlich Alkohol).
Es ist leicht, sich über die Hamsterkäufer, die Mundschutzträger zu belustigen oder sich über die vollidiotischen, unsolidarischen Corona-Partygänger zu ereifern. Gehen wir aber näher heran, schauen wir den Menschen in ihre ängstlichen Seelen, dann sehen wir hinter diesen ganz unterschiedlichen Reaktionen dasselbe Grundbedürfnis: nach Sicherheit, nach Kontrolle, nach Normalität und Routine.
Sicherheit – das ist ein Grundbedürfnis. Langfristige Verträge schließen wir in allen Lebensbereichen: vom Arbeitgeber über den Vermieter bis hin zu unserem Lebenspartner, ob mit oder ohne Trauschein. Dauerhafte Bindungen schaffen Vertrauen und machen „Investitionen“ sinnvoll, ob dies Überstunden sind oder die Bereitschaft, sich emotional auf einen Menschen und seine Eigenheiten einzulassen.
Sicherheit meint aber auch, dass wir Situationen einschätzen können; dass wir wissen, welche Auswirkungen unser Handeln hat und dass wir dementsprechend unser Handeln planen können. Wenn wir ins Supermarktregal greifen und damit ins Leere, geht es um mehr als Mehl oder Toilettenpapier: nämlich um das Vertrauen in die gesellschaftliche Ordnung (und ein bisschen auch um die Frage, ob tatsächlich all die Mehl-Käufer ihr Brot selbst backen wollen oder Kuchen essen?).
Religiöser Glaube diente als Versuch, Unerklärliches erklärbar zu machen
Sicherheit – sie hat mit Wissen zu tun. Nichtwissen macht unsicher. Der Begrenztheit ihres Horizonts ist die Menschheit über die Jahrtausende kreativ begegnet. Religiöser Glaube diente als Versuch, Unerklärliches erklärbar zu machen und Unkontrollierbares zu kontrollieren: Das Wechselspiel von Himmel und Hölle, vermeintliche Strafen Gottes und Opfergaben, die zehn Gebote als moralischer Kompass. Heute haben wir die Religion weitgehend durch Wissenschaft ersetzt, nur um jetzt festzustellen: Eigentlich wissen wir bislang vor allem, was wir nicht wissen. Dies schafft Sehnsucht nach zehn Geboten, die es jetzt zu befolgen gilt, und bietet Raum für noch die absurdesten Fake News.
Kontrolle und Normalität – das sind Fiktionen, die uns helfen, unser Leben zu meistern. So, wie das Horten von Spaghetti und Toilettenpapier der Versuch ist, nicht die Kontrolle über die Situation zu verlieren, ist das scheinbar ignorante Partyfeiern oder Restaurantbesuchen der verzweifelte Versuch, die Normalität aufrechtzuerhalten. Einfach das tun, was wir immer tun: So können wir uns selbst vorgaukeln, die Welt wäre nicht aus den Fugen geraten.
Alles, was außerhalb eingeübter Abläufe liegt, fordert uns
Routine – das ist das Ziel, um das wir von Kindesbeinen an ringen, damit unser Dasein möglichst wenig anstrengend wird. Wir Gewohnheitstiere sind gestresst, wenn wir uns außerhalb unserer Routinen bewegen müssen: Alles, was außerhalb eingeübter Abläufe liegt, fordert uns. Erinnern wir uns an unsere ersten Fahrstunden: Wie anstrengend es war, wie viel wir beachten mussten, all das Schalten, Lenken, all die anderen um uns herum! Heute ist das einst Gelernte längst Automatismus. Ebenso fahren wir im Alltag auf Autopilot, pendeln zwischen Arbeit, Kino, Fitnessstudio, Kneipe. Bis uns ein Virus aus allen Routinen reißt, bis die Gegenwart plötzlich zu einem ganz neuen, ganz ungewohnten Gefährt wird.
Was hilft? Vielleicht schon die Erkenntnis, wie sehr unser Dasein gerade erschüttert wird. Haben wir Geduld und Nachsicht mit unseren Mitmenschen und vor allem: mit uns selbst.